Baden-Württemberg

Sektorenmauer bremst Arzneisicherheit aus

Die Barmer in Baden-Württemberg hat die Versorgung von Polypharmazie-Patienten im Übergang zur Klinik verfolgt. Die Ergebnisse sind alarmierend.

Von jbbjbjbjbjbjb Veröffentlicht:
Viele Medikamente gleichzeitig – doch häufig fehlt ein Medikationsplan vom Arzt bei der Aufnahme des Patienten ins Krankenhaus: Das hat eine Umfrage der Barmer in Baden-Württemberg unter rund 2900 Polypharmazie-Patienten ergeben.

Viele Medikamente gleichzeitig – doch häufig fehlt ein Medikationsplan vom Arzt bei der Aufnahme des Patienten ins Krankenhaus: Das hat eine Umfrage der Barmer in Baden-Württemberg unter rund 2900 Polypharmazie-Patienten ergeben.

© GorillaPhoto / stock.adobe.com

Stuttgart. Die mangelnde digitale Vernetzung im deutschen Gesundheitswesen macht eine sektorenübergreifende Arzneimittelversorgung nahezu unmöglich. In der Praxis tun sich für niedergelassene Ärzte wie für ihre Kollegen im Krankenhaus hohe Hürden auf. Das geht aus dem Arzneimittelreport der Barmer Landesvertretung Baden-Württemberg hervor, der am Mittwoch vorgestellt wurde.

Die Kasse hat dazu fast 2900 Barmer-Versicherte über 65 Jahre befragt, die 2017 in einer Klinik behandelt worden sind. Bei der Befragung gaben rund ein Drittel der Versicherten an, sie hätten von ihrem Hausarzt keine Unterlagen in die Klinik mitbekommen.

Nur 29 Prozent der Betroffenen konnte in der Klinik einen bundeseinheitlichen Medikationsplan (BMP) vorweisen, der einen QR-Code zum Einlesen der Medikation enthält.

Lückenhafte Information

Rund 17 Prozent der Patienten verfügte über gar keine Aufstellung ihrer Medikamente. Bei weiteren 53 Prozent existierte nur ein Medikationsplan ohne QR-Code – zudem erwies sich jede dritte Aufstellung als unvollständig, wenn die Patienten zuvor von mehreren Ärzten behandelt wurde, berichtet die Barmer.

Dabei war ein großer Teil der Patienten hochgradig durch Polypharmazie betroffen: Rund 40 Prozent der über 80-jährigen Versicherten, die ins Krankenhaus kamen, hatte zuvor fünf bis neun Wirkstoffe gleichzeitig verordnet bekommen. In der Gruppe der 65- bis 79-Jährigen waren es noch 32Prozent, die so viele Medikamente parallel eingenommen haben.

Von Polymedikation wird bereits gesprochen, wenn ein Patient mehr als drei Medikamente gleichzeitig einnimmt. Hochgerechnet auf die Bevölkerung in Baden-Württemberg erhielten im Jahr 2017 rund 229.000 Menschen über 65 Jahre mindestens fünf Wirkstoffe parallel. Nimmt man noch die Gruppe jüngerer Patienten hinzu, dann wurden 2017 im Südwesten etwa 295.000 Polypharmazie-Patienten im Krankenhaus behandelt.

Informationen bleiben auf der Strecke

Der Informationsverlust zwischen dem ambulanten und stationären Sektor gefährdet die Patientensicherheit, sagte Winfried Plötze, Landesgeschäftsführer der Barmer. Eine sektorenübergreifende Versorgung, wie sie seit Jahren gefordert wird, „findet de facto nicht statt“, so Plötze. Der Fehler liege nicht primär bei den einzelnen Akteuren, sondern im System insgesamt: „Die Versorgungsprozesse sind zu wenig organisiert und digitalisiert“.

Das bestätigt Dr. Stefan Reinecke, Ärztlicher Direktor und Chefarzt am Marienhospital in Stuttgart. „Die Versorgungsforschung hat klar belegt, dass die Krankenhausaufnahme ein risikobehafteter Prozess ist“. Denn in der Klinik kann der Medikationsplan auf der elektronischen Gesundheitskarte weder ausgelesen noch gepflegt werden.

Jeder zweite Patient ist ein Notfall

Reinecke verwies darauf, dass rund die Hälfte der jährlich 34.000 stationären Patienten im Marienhospital als Notfall in die Klinik kommen – in diesen Fällen sei die Informationslage noch schlechter als geplanten Krankenhausaufenthalten.

Insoweit wiederholt sich bei der Entlassung eines Patienten der Informationsbruch im Übergang zum ambulanten Sektor, hat die Befragung der Barmer ergeben.

Demnach haben 41,5 Prozent der Klinikpatienten während ihrer Behandlung mindestens einen neuen Wirkstoff erhalten. Doch nur 35 Prozent der Barmer-Patienten bekamen bei ihrer Entlassung einen neuen Medikationsplan mit nach Hause. Schnelle Abhilfe ist nicht in Sicht, denn die elektronische Patientenakte (ePA), die Anfang 2021 startet, werde kein „Selbstläufer sein“, prognostizierte Plötze.

Projekt „Transsektorale Optimierung der Patientensicherheit“ gestartet

Die Barmer hat daher im Oktober mit Partner das vom Innovationsfonds geförderte Projekt „Transsektorale Optimierung der Patientensicherheit“ (TOP) gestartet. Im Rahmen des Projekts sollen strukturierte Prozesse von der Aufnahme bis zur Entlassung des Patienten die Arzneisicherheit erhöhen.

Zielgruppe sind dabei insbesondere Polypharmazie-Patienten, die sich in das Projekt einschreiben können. Dann werden unter Nutzung von Abrechnungsdaten der Barmer und unter Beteiligung von Krankenhausapothekern Ärzte in Klinik und Praxis unterstützt. Das Projekt wird für vier Jahre mit rund 9,3 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds gefördert.

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