Innovationsfonds-Projekt

Verlegungen Sterbender? Das geht anders

Kurz vor ihrem Lebensende werden 20 bis 25 Prozent der Sterbenden noch verlegt. Wie solche unnötigen Verlegungen vermieden werden können, wurde im Projekt „Avenue-Pal“ eruiert.

Von Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Schwerstkranke werden oft noch auf den letzten Metern ihres Lebens verlegt. Um das zu vermeiden, wurden Instrumente entwickelt. Jens Büttner/dpa (Symbolbild)

Schwerstkranke werden oft noch auf den letzten Metern ihres Lebens verlegt. Um das zu vermeiden, wurden Instrumente entwickelt. Jens Büttner/dpa (Symbolbild)

© picture alliance / Jens Büttner/dpa-Zentralbild/ZB

Gießen. Mit der gezielten Unterstützung der relevanten Akteure kann es gelingen, bei Schwerstkranken und Sterbenden nicht indizierte Verlegungen kurz vor dem Tod zu vermeiden. Das zeigt das Projekt „Avenue-Pal“. Eine wirksame Maßnahme ist neben Leitlinien und Entscheidungshilfen die Einrichtung eines Palliativdienstes in Krankenhäusern.

Das Projekt „Analyse und Verbesserung des sektor- und bereichsübergreifenden Schnittstellen- und Versorgungsmanagements in der Palliativversorgung“ wurde über drei Jahre mit zwei Millionen Euro aus dem Innovationsfonds gefördert. Konsortialführer war die TransMIT Gesellschaft für Technologietransfer in Gießen.

„Menschen werden auf den letzten Lebensmetern überraschend oft verlegt“, sagte der wissenschaftliche Leiter des Projekts Professor Wolfgang George beim digitalen Abschluss-Symposium von „Avenue-Pal“. 20 bis 25 Prozent der Sterbenden würden vor dem Tod verlegt, obwohl sie eigentlich als Sterbende hätten identifiziert werden können.

Leitlinie für Klinik und Heim

Meistens geschieht dies in einem stationären Kontext – die Patienten kommen vom Heim ins Krankenhaus oder innerhalb der Klinik auf eine andere Station, berichtete George, der Leiter des TransMIT-Projektbereichs für Versorgungsforschung ist. Die Projektbeteiligten haben Leitlinien für Krankenhäuser und für Pflegeheime entwickelt. Außerdem: „Wir haben Entscheidungshilfen formuliert für vier relevante Stakeholdergruppen.“ Das sind Hausärzte, Klinikärzte, Notärzte und Angehörige.

13 Risikofaktoren haben die Forscher für nicht vertretbare Verlegungen identifiziert.

Weitere Instrumente zur Verbesserung der Situation sind ein Leitfaden für die Kommunen sowie eine „Caregiver App“ für Angehörige. „Die zentrale Aufgabe der App ist es, die Betroffenen im Prozess zu stärken“, erläuterte George. Das Pflegeheim der AWO in Gießen mit 205 Bewohnern hat seine Verlegungspraxis analysiert, Leitlinien entwickelt und sie dann in dem Heim implementiert.

Für medizinisch und ethisch nicht vertretbare Verlegungen sind insgesamt 13 Risikofaktoren in drei Bereichen identifiziert worden, berichtete Jens Dapper, Geschäftsführer der AWO in Gießen:

  • Medizinische und pflegerische Risiken: Atemnot als zentraler Punkt, Schmerzen, die Verschlechterung der Grunderkrankung oder Erschöpfung, eine akute Erkrankung wie ein Sturz sowie eine psychische Beeinträchtigung oder Unruhe,
  • Personelle und organisatorische Risiken: Zahl und Qualifikation des Personals, die fehlende Kooperation mit Externen und die fehlende Notfallplanung,
  • Externe Risikofaktoren: unsichere und destabilisierte Angehörige, unzureichend eingebundene beziehungsweise informierte Hausärzte und Notärzte sowie das Fehlen von Patientenverfügungen, Testamenten oder einem Advanced Care Planning.

Gerade im Austausch mit den Hausärzten sieht Dapper großes Potenzial. „Wenn es uns gelingt, die Hausärzte frühzeitig einzubinden, haben wir eine Riesenchance, Verlegungen strukturell zu verhindern.“ Zu den einzelnen Risikofaktoren hat das Heim Maßnahmen für die Organisations- und Personalentwicklung auf den Weg gebracht. Dazu gehören Assessments und Standards zum besseren Umgang mit einzelnen Krankheitsbildern sowie Fortbildungen zur Palliative-Care-Kraft oder zur Pain Nurse. Das Heim hat Vereinbarungen mit dem Ärztenetz Gießen und Notärzten geschlossen. „Die gesamte Einrichtung hat Veränderungen erfahren“, sagte Dapper.

Am Standort Gießen des Universitätsklinikums Gießen Marburg (UKGM) ist als Teil des Projekts ein multiprofessioneller Palliativdienst eingeführt worden, zuvor wurde mit Palliativ-Konsilen gearbeitet. „Ziel war es, die Palliativmedizin ins Haus zu tragen, die Patienten dort aufzusuchen, wo sie sich befinden und sie nicht auf die Palliativstation zu holen“, erläuterte Professor Ulf Sibelius, Leiter der dortigen Palliativstation.

Der Dienst kommt auf Anfrage von Ärzten oder Pflegepersonal, besucht gemeinsam mit ihnen die Patienten und empfiehlt eine Therapie. „Wir haben nicht das Recht einer direkten Mitbehandlung“, betonte Sibelius. Das Konzept zeigt Wirkung. „Mit Einführung des Palliativdienstes ist es gelungen, das Verlegungsverhalten im Sinne der Patientenorientierung zu verbessern“, sagte Dr. Petra Steffen vom Deutschen Krankenhausinstitut, das die Begleitforschung zum UKGM-Projekt übernommen hat.

Nach der Auswertung konnte die Zahl der von den Mitarbeitern als unstimmig empfundenen Verlegungen reduziert werden, sie fühlten sich durch den Palliativdienst entlastet. Nicht nur bei den Mitarbeitern stieg die Zufriedenheit, sondern auch bei Patienten und Angehörigen. Ein Faktor sei dabei die bessere Organisation der ambulanten Weiterversorgung, berichtete Steffen. „Viel mehr Patienten konnten wunschgemäß nach Hause entlassen werden, ohne dass die Angehörigen belastet wurden.“

Finanzierung läuft weiter

Das Projekt wird im UKGM sehr gut angenommen, bestätigte Palliativmediziner Sibelius. Die Einführung des Palliativdienstes ist über „Avenue-Pal“ finanziert worden. „Wegen des Erfolgs konnte die Weiterfinanzierung durch die Klinik gesichert werden.“ Zurzeit wird auf Basis von „Avenue-Pal“ ein Vertrag zur integrierten Versorgung entwickelt, sagte Projektleiter George.

„Wir wollen in Hessen ein regionales Cluster für die Umsetzung unserer Lösungen gewinnen.“ Die Hoffnung: Es entsteht ein Modell, das auf andere Regionen übertragbar ist.

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