Versorgungsplanung: Das Ganze im Blick

Heute schon die Versorgung für morgen planen – ohne Sektorengrenze und Blick auf den eigenen Kirchturm. Drei Landkreise in Südwürttemberg entwickeln ein Versorgungskonzept, das als Blaupause für den ganzen Südwesten dienen kann.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:

STUTTGART. Die Versorgungsplanung von morgen wird in Südwürttemberg erprobt. In den Landkreisen Reutlingen, Biberach und Ravensburg wird ein sektoren- und kreisübergreifendes Versorgungskonzept erarbeitet. Die Landesregierung fördert das Modellprojekt mit einer Million Euro, im Herbst soll der Abschlussbericht vorliegen.

Die Projektkoordination für die Modellregion liegt bei Dr. Gottfried Roller, Leiter des Gesundheitsamts im Kreis Reutlingen: "Wir werden Vorschläge erarbeiten, wie eine Abstimmung zwischen der ambulanten Bedarfsplanung und der Krankenhausplanung im Sinne einer Versorgungsplanung aussehen könnte." Das, so Roller, könnte vom Vorgehen her eine Blaupause auch für andere Regionen im Südwesten sein. Die Ergebnisse können hochpolitisch ausfallen – wenn nämlich deutlich wird, dass die Bedarfsplanungszahlen wenig mit der Versorgungsrealität zu tun haben.

Sieben Krankheitsbilder im Fokus

Für eine breite Datengrundlage bei dem Projekt sorgt eine Arbeitsgruppe um Professor Joachim Szecsenyi von der Universität Heidelberg. Ihr Auftrag lautete, nicht nur die ambulante und stationäre Versorgung zu berücksichtigten, sondern auch Daten zur Gesundheitsförderung, Prävention, Rehabilitation und Pflege. Die Forscher haben auf Morbiditätszahlen aus verschiedenen Quellen zurückgegriffen, insbesondere aber auf Daten der AOK Baden-Württemberg.

Insgesamt etwa 212 Indikatoren sind in die Datenbank eingegangen, berichtet Dr. Jürgen Wuthe, Leitender Ministerialrat im Ministerium für Soziales und Integration in Baden-Württemberg. Zuvor seien dafür bundesweit Experten befragt worden.

Erfasst wurden bei der Datenerhebung auch die Inanspruchnahme von Leistungen sowie die vorhandenen Versorgungsangebote vor Ort. "Auch Daten zur Morbidität der Bevölkerung in Baden-Württemberg sowie nicht-medizinische Determinanten werden einbezogen", beispielsweise zum Gesundheitsverhalten, so Wuthe.

Sieben Krankheitsbilder sind für das Projekt ausgewählt worden: Schlaganfall, Diabetes Typ 1 und 2, Darmkrebs, chronischer Rückenschmerz, Depression, Demenz und Essstörungen (Anorexie/Magersucht). Eine Vorbedingung sei gewesen, dass die Krankheitsbilder eine hohe Relevanz für die Morbidität im Land und in der Modellregion haben. Eine weitere Maßgabe bestand darin, dass S 3-Leitlinien oder Nationale Versorgungsleitlinien für die ausgewählten Erkrankungen vorliegen.

Anorexie und Diabetes Typ 1 sind in die Liste aufgenommen worden, um nicht nur altersspezifische Erkrankungen, sondern Krankheitsbilder aller Lebensphasen zu berücksichtigen, berichtet Wuthe. Begleitet vom Institut für Allgemeinmedizin an der Universität Frankfurt unter Leitung von Professor Ferdinand Gerlach werden in diesen Wochen Handlungsempfehlungen für eine Versorgungsplanung neuen Typs erarbeitet. Dabei geht es darum, für jedes Krankheitsbild idealtypische Versorgungspfade zu skizzieren und Schnittstellen zu definieren, berichtet Roller.

Dabei handelt es sich gerade nicht um einen Top-down-Prozess. Denn das Steuerungsgremium auf der Ebene der Landkreise sind die kommunalen Gesundheitskonferenzen. Durch sie ist in der Vergangenheit die Basis für eine Dialogkultur gelegt worden, auf die die Projektverantwortlichen nun aufbauen können.

Insoweit praktiziert das Modellprojekt das, was bereits im Gesundheitsleitbild für Baden-Württemberg angelegt ist, erläutert Wuthe. "Die Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen muss regionalisiert, vernetzt und partizipativ erfolgen." Veränderung in den Versorgungsstrukturen könnten nur dann gelingen, wenn Bürger und Patienten einbezogen werden, betont er. Deshalb sollten die Handlungsempfehlungen in einem Bürgerforum einem "Realitätscheck" unterzogen, erläutert Projektkoordinator Roller. Unterstützt wird der Dialog durch Wissenschaftler um Professor Ortwin Renn vom Zentrum für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung an der Uni Stuttgart.

Welche Defizite in der sektorübergreifenden Versorgung bisher existieren, zeigt sich am Beispiel der Versorgung von Anorexie-Patienten, berichtet Behördenleiter Roller. "Rein statistisch ist alles in Ordnung". Gemessen an der Bedarfsplanung liege der Versorgungsgrad im Landkreis Reutlingen in der Psychotherapie bei 132 Prozent. Von Überversorgung aber keine Spur: "Die Versorgungsrealität sieht komplett anders aus, das haben sowohl die Betroffenen als auch Experten bestätigt", sagt Roller.

Klinikärzte hätten berichtet, dass die Anorexie-Patienten viel zu spät stationär eingewiesen würden. Nach Auskunft von Experten fehle es an einer adäquaten Zusammenarbeit zwischen Haus-, Kinderärzten und Kinder- und Jugendpsychiatern. Zudem betrage die Wartezeiten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie drei bis sechs Monate.

Eine mögliche Handlungsempfehlung bei der Versorgung von Anorexie-Patienten könne beispielsweise lauten, "dass eine Zentrenbildung sinnvoll ist". In diesem Zentrum würden dann alle relevanten Player – wie etwa Psychiater, Psychologen oder Gastroenterologen – zusammenarbeiten, skizziert Roller.

Schwachstellenanalyse gewünscht

Es sei ausdrücklich gewünscht, dass in dem Projekt auch Schwachstellen der Versorgung aufgezeigt werden, stellt Ministerialrat Wuthe klar. Die Handlungsempfehlungen sollen auf den rechtlichen Status quo Bezug nehmen, sie könnten nach seiner Darstellung aber auch anregen, "welche rechtlichen oder politischen Initiativen nötig sind, um zu einer besseren Abstimmung der Versorgung zu kommen", sagt Wuthe. Einige Empfehlungen werden landkreisbezogen ausfallen, andere sich auf die ganze Modellregion beziehen.

Die Projektbeteiligten sind sich darüber im Klaren, dass sich nach Veröffentlichung eine gewisse Politisierung der Ergebnisse nicht wird verhindern lassen. "Aber wir gehen das Thema wissenschaftlich neutral und patientenorientiert an, es geht uns darum, gemeinsam Lösungen zu finden", sagt Wuthe. Er hält zwar nichts davon, das Modellprojekt mit Erwartungen zu überfrachten. Aber man hoffe, dass andere Regionen die Ergebnisse der Modellregion "ein Stück weit als Blaupause nehmen, um ihre Versorgungsstrukturen zukunftsfest zu machen".

Rein statistisch ist alles in Ordnung. Aber die Versorgungsrealität sieht komplett anders aus – das haben sowohl die Betroffenen als auch die Experten bestätigt.

Dr. Gottfried Roller, Projektkoordinator, zur Situation der Versorgung von Anorexie-Patienten im Kreis Reutlingen

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