Europäischer Gesundheitskongress München

Was ein Primärarztsystem wirklich leisten musss

Digitale Ersteinschätzung, hausarztzentrierte Versorgung oder auch künftig ein direkter Weg in die Facharztpraxis: Die Rezepte für Patientensteuerung gehen auseinander. Hilft ein Blick in die Schweiz?

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Auf dem Podium zum Thema Primärarztsystem (v. l.): Dr. Werner Kübler, Constanze Stypula, Boris von Maydell, Dr. Wolfgang Ritter, Professor Dr. Wolfgang Greiner, Fabian Demmelhuber und Professor Dr. Jan Löhler. Es moderierte Anno Fricke von der Ärzte Zeitung.

Auf dem Podium zum Thema Primärarztsystem (v. l.): Dr. Werner Kübler, Constanze Stypula, Boris von Maydell, Dr. Wolfgang Ritter, Professor Dr. Wolfgang Greiner, Fabian Demmelhuber und Professor Dr. Jan Löhler. Es moderierte Anno Fricke von der Ärzte Zeitung.

© Michaela Schneider

München. Primärarztsystem – der Begriff ist in der gesundheitspolitischen Debatte längst Reiz- und Schlagwort geworden. Und so war der Saal gut gefüllt, als am Dienstag beim 24. Europäischen Gesundheitskongress in München (EGKM) unter dem Titel „Der erste Kontakt zählt“ diskutiert wurde, was ein gutes Primärarztsystem wirklich leisten müsse. Moderiert wurde das Panel von Anno Fricke, vom Team „Politik & Debatte“ der Ärzte Zeitung.

Bessere Koordination für Qualität und Effizienz

Eine bessere Koordination in der Patientenversorgung sei für die Qualität der Versorgung, aber auch für deren Effizienz essenziell, betonte Professor Dr. Wolfgang Greiner, der im September zum Vorsitzenden der Finanzkommission Gesundheit des Bundesgesundheitsministeriums ernannt wurde. Beim EGKM trat er explizit in seiner Rolle als Wirtschaftswissenschaftler und Gesundheitsökonom auf.

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Schlüsselfaktoren für eine bessere Koordination sind laut Greiner eine konsequente Digitalisierung und eine Angleichung der Rahmenbedingungen der Sektoren. Zahlreiche zersplitterte Einzel-Regularien sollten die Sektorentrennung zwar überwinden, es fehle aber ein Gesamtkonzept.

Und: Unerlässlich sei auch bei Maßnahmen zur besseren Versorgungskoordination eine Abwägung von Kosten und Nutzen. Beim Blick aufs Thema Patientensteuerung riet Greiner zu einem „Weitergehen in Richtung digitale Ersteinschätzung“. Man müsse mehr tun, als nur zu sagen: „Das werden die Hausärzte schon schaffen.“

Maydell: Steuerung über telemedizinische Ersteinschätzung

Und wie steht es um die Vorstellungen der Kassen? Boris von Maydell, Abteilungsleiter für ambulante Versorgung vom Verband der Ersatzkassen e.V., verwies auf eine Zi-Analyse, der zufolge der vdek im Falle eines Primärarztsystem mit etwa 800 zusätzlichen Kontakten im Jahr je Hausarzt rechnet.

Als Problem identifizierte er beim Blick auf GKV-Abrechnungsdaten jene 20 Prozent der Patienten, die sechs und mehr verschiedene Arztpraxen im Jahr besuchten, sowie Patienten, die drei und mehr Praxen einer Fachgruppe in Anspruch nähmen.

Wie sich das ändern ließe? „Wir glauben, dass wir die Leute über eine telemedizinische Ersteinschätzung in die Steuerung bringen“, sagt von Maydell.

Bayern macht‘s mit DocOnLine vor

Wie dies aussehen kann, macht Bayern vor. Und so stellte Fabian Demmelhuber, Leiter des Referats Versorgungsinnovationen der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB), das Projekt „DocOnLine“ vor. Das ist eine digitale Notfallplattform, mit der die KVB den ärztlichen Bereitschaftsdienst entlasten, dem Patienten einen direkten Zugang in die ambulante Versorgung anbieten und eine bessere Patientensteuerung erreichen will.

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Der Patient wird durch ein telemedizinisches Ersteinschätzungsverfahren geleitet, in den meisten Fällen kommt laut Demmelhuber heraus, dass die ambulante Versorgung die richtige ist. Der Patient stellt vorneweg sämtliche für den Arzt relevanten Informationen zur Verfügung – und wartet dann im Schnitt fünf Minuten bis zum Arztgespräch per Videosprechstunde. Gekoppelt ist dass System im Hintergrund für Notfälle an die 116117.

„Digital First“ auch politisch umsetzen

Sie würde sich wünschen, dass „Digital First“ auch in die politische Umsetzung komme, sagte Constanze Stypula, Geschäftsführerin der jameda GmbH. Die Vision: Der Patient finde über den digitalen Erstkontakt seinen ersten Pfad und werde dann weitergeleitet. Stypula: „Ich glaube nicht, dass man dem Hausarzt noch mehr Last auferlegen sollte, der sowieso schon extrem ausgelastet ist.“

Und wie sieht‘s der Hausarzt selbst? Digitalisierung sei sicher ein Baustein, doch ließen sich viele Probleme nicht digital lösen, sagt Dr. Wolfgang Ritter, zweiter stellvertretender Bundesvorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes.

Plädoyer für hausarztzentrierte Versorgung

Die Schwächsten im Gesundheitssystem seien die alten und multimorbiden Patienten. Es gehe darum auch ihnen einen weiter Zugang zu ermöglichen. Und so sprach sich Ritter wenig überraschend deutlich für eine hausarztzentrierte Versorgung aus – und reagierte damit auch auf die Position von Professor Dr. Jan Löhler, Präsident des Deutschen Berufsverbands der Hals-Nasen-Ohrenärzte (BVHNO) , als Vertreter der niedergelassenen Fachärzteschaft.

Ein reines Hausarztmodell würde Löhler zufolge die funktionierenden Behandlungspfade abreißen, Facharztpraxen in Existenznot bringen und „die Entlastung, die wir jetzt schon machen für die Hausärzte, wäre zerstört“. Er forderte unter anderem den Erhalt des Direktzugangs für Facharztpraxen, ein persönliches Ärzteteam, eine KI-gestützte Steuerung statt eines Primärarztmodell sowie eine Erweiterung der HzV um Facharztverträge.

Blick in die Schweiz: Steuerung über Prämien

Und wie lautet der Ratschlag „von außen“? Dr. Werner Kübler, ist Präsident des Verwaltungsrats der SWICA Krankenversicherung AG, der viertgrößten gesetzlichen Krankenkasse der Schweiz. Steuerung geschieht dort relativ locker, dem Patienten werden Prämienmodelle auf freiwilliger Basis angeboten. „Wenn ich einen Rat geben darf: Versuchen sie, nicht alles über einen Kamm zu scheren, dann entwickelt sich ein Markt“, so Kübler. (mic)

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