Wenn Angst und Mut sich mischen

Fehlinfomation, Repression, Ausspitzelung. Doch die Bürger von Leipzig gehen trotz Angst mutig auf die Straße.

Von Michael Burgkhardt Veröffentlicht:

Von allen Montagen, an die ich mich erinnern kann, ist der 9. Oktober 1989 der weitaus schönste. Ich war zu dieser Zeit Ärztlicher Direktor einer der größten DDR-Polikliniken, der Poliklinik Leipzig-Ost. Sie hatte 330 Mitarbeiter, davon 70 Ärzte und Naturwissenschaftler. Jeder Zehnte war, wie ich später feststellen konnte, informeller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit.

In der Klinik herrschte im Sommer 1989 eine eigenartige Stimmung: jeder siebte Mitarbeiter hatte einen Ausreiseantrag gestellt, andere waren in oppositionellen Gruppen aktiv, die SED-Parteileitung versuchte, mit Durchhalteparolen die Krise hinwegzureden.

"Heute soll Blut fließen - die Asozialen werden abgeräumt"

Am 9. Oktober gegen 10 Uhr kam eine Verwaltungsmitarbeiterin der Klinik aufgeregt zu mir und erzählte mir, dass ihre Tochter sie angerufen hätte, die Lehrer in der Schule hätten gesagt, dass zur Montagsdemonstration heute wohl Blut fließen würde.

Wenig später kam der Vater eines Klassenkameraden meines Sohnes in Tränen aufgelöst, outete sich als Mitglied einer Betriebskampfgruppe und berichtete, dass der Kampfgruppenkommandant im Betrieb angekündigt hätte, dass "…es am Nachmittag in das Stadtzentrum geht, um die Asozialen abzuräumen…". Die Ausgabe von scharfen Waffen war angekündigt. Diese Nachricht war besonders schlimm, weil am 6. Oktober der berüchtigte Kommandant Lutz in der Leipziger Volkszeitung praktisch zu den Waffen gerufen hatte. Also haben wir dem Hilfesuchenden einen Zinkleimverband angelegt und mit einer Tendinitis krankgeschrieben.

Gegen Mittag erschienen zwei Gewerkschaftsfunktionärinnen und agitierten die Klinikmitarbeiterinnen, auf keinem Fall am Abend in die Innenstadt zu gehen, weil die "bewaffneten Organe" Ordnung und Sicherheit wieder herstellen würden. Eine Kollegin kam sehr aufgeregt, weinte und erzählte, dass ihr Sohn als Wehrpflichtiger bei der Bereitschaftspolizei sei und dort Urlaubs- und Ausgangssperre angekündigt wurde.

Die Nachrichten verdichteten sich: ein befreundeter Chirurg aus den Universitätskliniken teilte mit, dass alle Diensthabenden abgelöst und durch SED-Mitglieder ersetzt worden waren. Gerüchte liefen um, dass zusätzliche Blutkonserven angefordert worden seien und dass auf dem Leipziger Südfriedhof Leichensäcke gezählt wurden. Heute wissen wir aber, dass dies bewusst von der Partei in Umlauf gesetzt wurde, um Angst und Schrecken zu verbreiten.

Meine Frau arbeitete als Gynäkologin in einem Kreiskrankenhaus außerhalb Leipzigs. Sie durfte ihren Arbeitsplatz bereits kurz nach Mittag verlassen, "…weil Sie sonst nicht mehr nach Leipzig reinkommen…"

Diese Atmosphäre hat wohl dazu geführt, dass sich viele Menschen entschlossen, ins Zentrum zu gehen.

Ich begab mich nach Hause und kleidete mich zweckmäßig: wasserdichte Jacke, Sportschuhe und das vorbereitete Transparent mit meiner Botschaft "Freie Wahlen". Meine Frau und die Kinder blieben zu Hause, und ich fuhr in Begleitung mehrere Kollegen mit der völlig überfüllten Straßenbahn bis zum Johannisplatz.

Als wir kurz vor 18 Uhr an die Nikolaikirche kamen, standen dort tausende Menschen, und aus der Innenstadt ergoss sich eine unübersehbare Menschenmenge auf den Karl-Marx-Platz (heute: Augustusplatz).

Es formierte sich ein Demonstrationszug: 70 000 Menschen zogen um den Leipziger Stadtring. Ich war mitten drin und hatte Angst. Da kam es mir sehr gelegen, dass sich zwei mir völlig fremde Menschen links und rechts bei mir einhakten. Aha, dachte ich, die haben auch Angst! Aber gemeinsam ging es eben sehr gut und wir kamen unbeschadet an der Stasizentrale vorbei.

Dort sah ich etwas sehr Merkwürdiges: Vor dem Stasigebäude standen Berufsfeuerwehrleute, die ich kannte, mit Handspritzen, um bei Bedarf die Kerzen, die von den Demonstranten aufgestellt waren, "abzulöschen".

Ich setzte mich noch in der Nacht an die Schreibmaschine und schrieb einen Forderungskatalog nieder. Diese "Erklärung der Ärzte der Poliklinik Leipzig-Ost" wurde später deutschlandweit veröffentlicht, so auch in der "Ärzte Zeitung". 21 Ärztinnen und Ärzte unterschrieben. Viele Zauderer, Ängstliche und SED-Mitglieder, unterschrieben nicht! Der Aufruf mit seinen elf Thesen endete mit einem Denkfehler. Ich dachte nämlich an diesem 9. Oktober nicht an die Wiedervereinigung und formulierte deshalb, dass wir "…den Sozialismus verbessern" sollten.

Nun ja, verbessert haben wir den Sozialismus nicht, sondern die Gesellschaft gründlich demokratisiert. Dabei hat man manchmal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Meine Poliklinik war schon nach einem Jahr abgewickelt; weil keiner der 70 Ärzte bereit war, über ein alternatives Modell ärztlicher Kooperation nachzudenken. Das System der Schnellen Medizinischen Hilfe, das ohne Zweifel das beste Modell außerklinischer Notfallversorgung war, wurde sofort nach der Wende in vorauseilendem Gehorsam zerschlagen. Heute beklagen wir die Überfrachtung des Notarztdienstes mit Banalfällen, ohne eine Lösung anbieten zu können.

Alles das ändert aber nichts daran, dass die Wendezeit zur glücklichsten Zeit in meinem Leben gehörte. Ausgangspunkt war der zweite Montag im 89er Oktober, der schönste Montag in meinem Leben.

Zum Special "20 Jahre Mauerfall" »

ZUR PERSON

Dr. Michael Burgkhardt

Der Facharzt für Facharzt für Allgemeinmedizin und Urologie, geboren 1945, leitete Ende der 80er Jahre eine der größten Polikliniken in Leipzig.

Seit 1990 ist er Mandatsträger der Sächsischen Landesärztekammer, Stellvertretender Vorsitzender der Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands (BAND).

Seit 1990 gehört er dem Stadtrat in Leipzig an und ist Vorsitzender des Stasi-Ausschusses.

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