Nutzenbewertung

Wird die Lebensqualität unterbewertet?

Werden Krebspatienten in Deutschland durch das Verfahren der Nutzenbewertung schlechter versorgt als Patienten in anderen Ländern? Krebsexperten sehen diese Gefahr.

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:
Spielt Lebensqualität bei Nutzenbewertung eine zu geringe Rolle?

Spielt Lebensqualität bei Nutzenbewertung eine zu geringe Rolle?

© Fuse/ Get tyImages

BERLIN. Beim 38. Interdisziplinären Forum der Bundesärztekammer in Berlin ist die Krebsversorgung in Deutschland im Zeitalter der Nutzenbewertung unter die Lupe genommen worden.

Dr. Regina Klakow-Franck vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) betonte, die häufiger zu hörende Behauptung, wonach die Lebensqualität der Krebspatienten bei der IQWiG-Bewertung und der anschließenden GBA-Entscheidung eine zu geringe Rolle spiele, sei nicht pauschal haltbar.

Vielmehr könne die gesundheitsbezogene Lebensqualität auch bei gleichem progressionsfreiem Überleben prinzipiell eine Erstattung rechtfertigen.

Daten oft mangelhaft

Als Beispiel für eine onkologische Substanz, die wesentlich auch wegen ihres günstigen Einflusses auf die Lebensqualität positiv bewertet wurde, nannte Klakow-Franck, die unparteiisches Mitglied im GBA ist, den ALK/ROS1-Inhibitor Crizotinib.

Ihm sei beim nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom vor allem wegen der Lebensqualität ein beträchtlicher Zusatznutzen attestiert worden.

Die Expertin gab allerdings zu, dass bisher die Beispiele, bei denen neue Substanzen trotz vermeintlich besserer Lebensqualität keinen "beträchtlichen Zusatznutzen" attestiert bekamen, deutlich überwögen.

So sei Abirateron in der antihormonellen Therapie des Prostatakarzinoms nur ein "Hinweis" auf einen Zusatznutzen" zugestanden worden. Auch bei Ipilimumab in der Indikation metastasiertes Melanom blieb es bei einem "Hinweis". Und der Zusatznutzen des JAK-Hemmers Ruxolitinib bei der Myelofibrose wurde als "gering" eingestuft.

Ein Hauptgrund für viele abschlägige Bewertungen sei die schlechte Qualität der zur Lebensqualität vorgelegten Daten.

Die Datenerhebung erfolge teilweise unverblindet. Sehr häufig sei der Rücklauf so gering, dass keine sinnvollen Aussagen möglich sind. Und auch die Studienarme seien im Hinblick auf Lebensqualitätsendpunkte oft ungleichmäßig bestückt, was die Daten kaum bewertbar mache.

"Sehr schwierige Gratwanderung"

Zufrieden sei mit dieser Situation niemand: "Im Moment bewegen wir uns bei der Nutzenbewertung manchmal auf dem Niveau von Einzelfallentscheidungen in der Palliativmedizin. Für den GBA ist das eine sehr schwierige Gratwanderung."

Für die Ärzteschaft übernahm Professor Manfred Dietel von der Pathologie der Charité Berlin die Rolle des Zweiflers am Verfahren.

Er halte es für sinnvoller, Lebensqualitätsdaten stärker im Zulassungsprozess der Arzneimittel zu berücksichtigen, als sich im Nachgang einer Zulassung als einzelnes Land darüber zu beschweren, dass Daten nicht vorlägen, die für die internationalen Zulassungen inklusive der europäischen gar nicht nötig waren.

Den ALK/ROS1-Inhibitor Crizotinib ließ Dietel als Positivbeispiel für einen "gelungenen" IQWiG/GBA-Prozess nicht uneingeschränkt gelten: "Für Crizotinib wurde in der ersten Runde ein Zusatznutzen abgelehnt", sagte er.

Nur weil der Hersteller zufällig GBA/IQWiG-genehme Daten zur Lebensqualität erhoben hatte und diese kurzfristig nachreichen konnte, sei das Medikament doch noch durchgegangen.

Hier habe zeitweise die akute Gefahr bestanden, dass ein für eine kleine Patientengruppe sehr wirksames Präparat in Deutschland nicht zur Verfügung gestanden hätte. Um so etwas zu verhindern, plädierte Dietel für mehr Flexibilität bei der Bewertung von Studiendaten.

Lange Entscheidungsprozesse

Ein weiterer Kritikpunkt der Ärzteschaft betrifft eine gewisse Langfristigkeit und Redundanz der GBA-Entscheidungsprozesse. Beim Berliner Symposium machte sich das an den prädiktiven Gensignaturen für Brustkrebs fest.

Mit dem amerikanischen OncotypeDX® und dem europäischen EndoPredict® stehen seit einiger Zeit zwei gut validierte Gentests zur Verfügung, mit denen sich die Zahl der Frauen mit Brustkrebs, die eine adjuvante Chemotherapie benötigen, erheblich reduzieren lässt.

In den USA und einigen europäischen Ländern werden diese Gentests seit Jahren eingesetzt. Auch das englische NICE-Institut hat sie 2013 positiv bewertet.

Nicht dagegen Deutschland: Wer hierzulande als GKV-Patientin hormonrezeptor-positiven, HER2-negativen Brustkrebs hat, muss den Test meist selbst zahlen.

Andernfalls wird das Metastasenrisiko ausschließlich klinisch-traditionell ermittelt. Das führt dazu, dass ein erheblicher Teil der als "mittleres Risiko" klassifizierten Patientinnen unnötig mit adjuvanter Chemotherapie behandelt werden.

Dietel nannte beispielhaft die ABSG 6/8-Studien mit dem EndoPredict-Test. Hier wurden 1371 von insgesamt 1702 Patientinnen als "mittleres Risiko" klassifiziert. Der Gentest konnte 840 von ihnen die Chemotherapie ersparen.

Klakow-Franck: "Sehr unbefriedigende Situation"

Auch Klakow-Franck gab zu, dass sie die Situation in Deutschland bei den prädiktiven Gensignaturen für das Mammakarzinom "sehr unbefriedigend" finde.

Allerdings habe der GBA im Dezember beschlossen, dass ein Methodenbewertungs-(HTA-)Verfahren eingeleitet werde, sodass in spätestens zwei Jahren eine Entscheidung vorliegen könnte.

Für Dietel ist das völlig inakzeptabel: Nachdem international diverse andere Institute alle relevanten Bewertungen längst vorgenommen hätten, dürfe eine deutsche Bewertung eigentlich nicht länger als wenige Monate dauern, so der Pathologe.

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