Letzte Hoffnung Straßburg

Dauerfeldzug gegen Zwangsverrentung

Sein Lebensinhalt wurde ihm vor fast zehn Jahren mit dem Zwangsruhestand geraubt. Seitdem zieht der ehemalige Vertragsarzt Dr. Günter Ettrich vor jedes mögliche Gericht, um Kompensation für seine Einbußen zu fordern. Nun ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Zug.

Von Monika Peichl Veröffentlicht:
Ettrich: "Meine freiberufliche Existenz als Internist und Vertragsarzt wurde ohne jegliche Entschädigungsleistung zunichte gemacht."

Ettrich: "Meine freiberufliche Existenz als Internist und Vertragsarzt wurde ohne jegliche Entschädigungsleistung zunichte gemacht."

© privat

NEU-ISENBURG. Auch wenn er wenig Hoffnung hat: Dr. Günter Ettrich gibt nicht auf. Der 77-jährige frühere Vertragsarzt will für den Zwangsruhestand entschädigt werden, der ihm sein Einkommen und seinen Lebensinhalt geraubt hat.

2003 musste Ettrich seine Internistenpraxis schließen. Er hatte die Altersgrenze von 68 Jahren erreicht, die der seit 1999 geltende Paragraf 95 Absatz 7 Satz 3 Sozialgesetzbuch V vorgab.

Das sollte der nachrückenden Generation den Zugang zur Niederlassung erleichtern, aber auch den Anstieg der Kassenausgaben für die ambulante Versorgung bremsen.

Zum 1. Oktober 2008 wurde die Bestimmung wieder abgeschafft. Bis dahin waren jährlich 270 bis 300 Vertragsarztsitze durch den Zwangsruhestand frei geworden - "das waren gerade einmal 0,25 bis 0,27 Prozent", rechnet Ettrich vor.

Bedeutsame Einsparungen seien somit gar nicht möglich gewesen. Insgesamt waren etwa 2000 Vertragsärzte betroffen.

Demenz-Beschluss aus Karlsruhe

Klagen vor Sozialgerichten und Verfassungsbeschwerden endeten für Ettrich und andere Betroffene ohne Erfolg.

Das Bundesverfassungsgericht argumentierte in seiner als "Demenz-Beschluss" bekannten Entscheidung von 1998 unter anderem, dass bei über 68-Jährigen Gefahr für die Allgemeinheit bestehe, weil körperliche und geistige Leistungsfähigkeit in diesem Alter nicht mehr als sicher zu unterstellen seien.

Seit Aufhebung des Zwangsruhestands ist davon nicht mehr die Rede. Für die privatärztliche Tätigkeit hatten die Verfassungsrichter diese Gefahr ohnehin nicht gesehen.

In ihrem Beschluss hatten sie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Ärzte nach Vollendung des 68. Lebensjahres mittels Privatpraxis weiterhin Einkünfte erzielen könnten, "wenn auch nur in begrenztem Umfang".

Nach Ettrichs Ansicht wurde durch den früheren Paragrafen sein Grund- und Menschenrecht auf Eigentum verletzt. Seine entschädigungslose Enteignung verstoße gegen Artikel 14 Grundgesetz, der in Satz 3 festlegt, dass eine Enteignung nur aufgrund eines Gesetzes erfolgen darf, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt.

"Meine freiberufliche Existenz als Internist und Vertragsarzt wurde ohne jegliche Entschädigungsleistung zunichte gemacht." Zudem verstoße der Zwangsruhestand gegen das Verbot der Altersdiskriminierung, verankert in einer EU-Richtlinie sowie im deutschen Recht.

Gericht droht mit Missbrauchsgebühr

Das Bundesverfassungsgericht zeigt keinerlei Bereitschaft, seine Meinung zu ändern. Eine erneute Beschwerde Ettrichs wurde 2010 abgewiesen.

Würde er es noch einmal in Karlsruhe versuchen, drohen ihm sogar Gebühren bis zu 2600 Euro wegen "Missbrauchs durch sinnentleerte Inanspruchnahme". Der nationale Rechtsweg steht ihm also nicht mehr offen.

Derzeit streitet Ettrich auf verschiedenen Wegen weiter um sein Recht: vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und im Petitionsausschuss des Bundestags.

Der Petitionsausschuss hatte seine Eingabe mit negativer Beschlussempfehlung an den Bundestag weitergereicht, ohne, wie es das Verfahren vorschreibt, dem Petenten Gelegenheit zu geben, dazu Einwände vorzubringen.

Durch Intervention von Bundestagspräsident Norbert Lammert wird sich der Petitionsausschuss noch einmal mit der Eingabe befassen, ein Termin dafür wurde bisher nicht genannt.

Der EGMR in Straßburg hat Ettrichs Klage gegen die Bundesrepublik angenommen, wann er den Fall entscheiden wird, ist noch unbekannt. In Straßburg können Kläger, die im eigenen Land in allen Instanzen abgewiesen wurden, positive Überraschungen erleben.

Internist hat noch eine Anlaufstelle gefunden

So etwa jener Kläger, der dort kürzlich gegen das deutsche Jagdrecht obsiegte, und das erst im zweiten Anlauf. Der Jagdgegner musste per Gesetz zwangsweise Mitglied einer Jagdgenossenschaft sein und Jäger auf seinem Grundbesitz dulden.

Beim Bundesverfassungsgericht war er gescheitert. Auch die Kleine Kammer des Menschenrechtsgerichtshof hatte die Klage 2011 abgewiesen, die Große Kammer hingegen sah darin einen Verstoß gegen das Menschenrecht auf Schutz des Eigentums.

Ob sich Hartnäckigkeit auch für Ettrich eines Tages auszahlen wird, ob es auf dieser Welt doch einen Gerichtshof gibt, der ihm hilft, ist ungewiss.

Ende Juni hat er sich an Christine Lüders, die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, gewendet.

Sie möge, so seine Bitte, "wenn irgend möglich" das Bundesverfassungsgericht auffordern, sich nochmals mit dem Ruhestandsparagrafen zu befassen.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Realität holt Planer von einst jäh ein

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