Göttinger Transplantationsprozess

Ohrfeige für die BÄK

Die Transplantationsrichtlinien der Bundesärztekammer sind zum Teil verfassungswidrig, hat das Landgericht Göttingen entschieden. Die Ärzte geraten damit in ein schiefes Licht. Dabei müsste es eigentlich den Gesetzgeber treffen.

Von Ingo Pflugmacher Veröffentlicht:
Das Urteil im Göttinger Transplantationsprozess ist gefallen.

Das Urteil im Göttinger Transplantationsprozess ist gefallen.

© Nikolay Mamluke / iStock / Thinkstock

GÖTTINGEN. Der Transplantationsprozess vor dem Landgericht Göttingen ist mit einer Ohrfeige für die Bundesärztekammer zu Ende gegangen: Deren Richtlinien für die Wartelistenführung und die Organvermittlung bei Transplantationen sind zum Teil verfassungswidrig, so die Richter.

Unser Grundgesetz garantiert jedem die Chance auf eine gleichberechtigte Teilnahme am Organvergabeverfahren, sofern eine aussichtsreiche Transplantation möglich ist. Die Richtlinie für die Lebertransplantation enthält aber zum Beispiel die Aussage, dass bei Patienten mit alkoholinduzierter Zirrhose eine Aufnahme in die Warteliste erst dann erfolgt, wenn der Patient mindestens sechs Monate völlige Alkoholabstinenz eingehalten hat.

Diese ohne Ausnahmemöglichkeit und Abweichungsbefugnis im Einzelfall formulierte Voraussetzung wird unseren verfassungsrechtlichen Prinzipien nicht gerecht, daher ist kein Arzt daran gebunden. Der Vorwurf, gegen die Verfassung zu verstoßen, hat Gewicht.

Die Bundesärztekammer - und damit in der öffentlichen Wahrnehmung eventuell die gesamte deutsche Ärzteschaft - steht da wie jemand, der den Schutz des Lebens und der Gesundheit nach Artikel 2 des Grundgesetzes nicht ausreichend würdigt.

Das ist in gleicher Weise inakzeptabel wie falsch! Die Bundesärztekammer ist daran aber selbst schuld.

Der Bundesgesetzgeber hat sich nämlich weitestgehend der Verantwortung für die Allokationsentscheidung im Rahmen der Organvergabe entzogen. Das ist bereits vor Jahren zutreffend als Verantwortungslosigkeit durch Deregulierung und Delegation kritisiert worden.

Man kennt dies aus der Wirtschaft. Der Vorstand schickt bei kritischen Fragen den Abteilungsleiter vor: Wenn etwas schief geht, ist der Abteilungsleiter schuld, nicht der Vorstand selbst.

Anders als in Wirtschaftsunternehmen hätte die Bundesärztekammer aber die ihr im Transplantationsverfahren vom Gesetzgeber zugewiesene Verantwortung nicht übernehmen müssen, da die Ausgestaltung eines solchen Verfahrens gar nicht zu ihren satzungsgemäßen Aufgaben gehört (Paragraf 2 der Satzung).

Verantwortungslosigkeit durch Delegation

Unser Grundgesetz verbietet es, zwischen mehr oder weniger "lebenswertem" Leben zu differenzieren. Grundsätzlich haben deshalb alle Menschen, bei denen eine Transplantation medizinisch indiziert ist, einen Teilhabeanspruch.

Daraus folgt ein Recht auf Zugang zur Warteliste. Die Ablehnung der Aufnahme in die Warteliste greift somit massiv in Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit ein.

Der Gesetzgeber hat aber im Transplantationsgesetz (§ 10 Abs. 2 TPG) einzig und allein geregelt, dass über die Aufnahme in die Warteliste nach Regeln zu entscheiden ist, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, insbesondere nach Notwendigkeit und Erfolgsaussicht einer Organübertragung.

Obwohl es medizinischer und juristischer Konsens ist, dass bereits die Kriterien der Notwendigkeit und Erfolgsaussicht einen Zielkonflikt darstellen können, enthält sich der Gesetzgeber jeder weiteren Konkretisierung.

Vielmehr soll nach § 16 TPG die Bundesärztekammer den Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft für die Regeln zur Aufnahme in die Warteliste feststellen.

Die Formulierung erweckt den Eindruck, es werde eine Auswahlentscheidung nur aufgrund medizinisch-wissenschaftlicher Kriterien getroffen. Dies wurde bereits als "gesetzgeberisches Verwirrspiel" bezeichnet. Bei der Entscheidung über die Aufnahme in die Warteliste sind aber neben medizinischen Aspekten stets auch Gerechtigkeitskriterien zu berücksichtigen.

Dies geschieht mit den Richtlinien auch. So steht hinter dem Vorrang der so genannten High-Urgency-Patienten der Gedanke, dass die Rettung so vieler Leben wie möglich der Rettung möglichst vieler Lebensjahre gegenüber vorzugswürdig sei.

Gerechter Umgang mit knappen Ressourcen?

Das stellt aber keine medizinische Wertung oder gar Feststellung dar, sondern betrifft die - schwierige - Frage des gerechten Umgangs mit knappen Ressourcen. Auch hinter der nun für verfassungswidrig befundenen Abstinenzklausel verbergen sich bei genauerer Betrachtung solche Wertungen.

Die alkoholinduzierte Leberzirrhose kann auf einem pathologischen Abusus, also einer Krankheit, beruhen. Kann man organbedürftigen Patienten, die auch an anderen Krankheiten leiden, den Zugang zur Warteliste verwehren?

Diese Frage spielte früher bei der Aufnahme HIV-Infizierter in die Warteliste eine Rolle. Sie war voriges Jahr Hintergrund der Diskussion um die Aufnahme eines Kleinkindes mit schwerwiegender Hirnschädigung.

Die Transplantationsrichtlinien enthalten an vielen Stellen solche offenen oder versteckten Gerechtigkeitsmaßstäbe, die eben nicht allein eine "Feststellung der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft" sind. Die Einbeziehung dieser Gerechtigkeitsüberlegungen in die Allokationsentscheidung ist auch richtig.

Ist es aber Aufgabe der BÄK, neben den Feststellungen zum Stand der medizinischen Wissenschaft auch Gerechtigkeitsmaßstäbe zu entwickeln, die im Einzelfall über Leben und Tod entscheiden?

Im Göttinger Transplantationsprozess wurde kritisiert, dass der angeklagte Arzt sich angemaßt habe, über die "Zuteilung von Lebenschancen" zu entscheiden. Dieser Vorwurf ist eindeutig richtig.

Ist es aber auch richtig, dass sich die Bundesärztekammer nun den Vorwurf gefallen lassen muss, in ihren Richtlinien über die Zuteilung von Lebenschancen in verfassungswidriger Weise entschieden zu haben?

Zuteilung von Lebenschancen

Das Bundesverfassungsgericht könnte anderer Auffassung sein: Man kann auch die Numerus-clausus-Regelungen über den Zugang zum Medizinstudium als Zuteilung von Lebenschancen - natürlich auf erheblich weniger gravierendem Niveau - verstehen.

Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1972 festgestellt, dass es "wegen der einschneidenden Bedeutung der Auswahlregelung Sache des verantwortlichen Gesetzgebers ist, auch im Fall einer Delegation seiner Regelungsbefugnisse zumindest die Art der anzuwendenden Auswahlkriterien und deren Rangverhältnis untereinander selbst festzulegen."

Dem ist für die Aufnahme in die Warteliste eigentlich nichts hinzuzufügen.

Dr. Ingo Pflugmacher ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht und für Verwaltungsrecht und Partner der Kanzlei Busse & Miessen in Bonn.

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