Bis zu 70 Prozent der Frauen mit Chlamydien haben keine Symptome

Seit Januar 2001 gibt es nur für Syphilis und HIV-Infektionen eine Labormeldepflicht. Für andere sexuell übertragbare Erkrankungen (STD) liefert das Ende 2002 vom Robert-Koch-Institut (RKI) aufgebaute bundesweite Erfassungssystem für STD Zahlen. Dr. Viviane Bremer vom RKI in Berlin berichtet im Gespräch mit Christina Ott, welche Ergebnisse und Tendenzen sich hierbei ablesen lassen.

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Forschung und Praxis: Seit Mitte der 90er Jahre wird in europäischen Ländern wie Großbritannien und Skandinavien eine Zunahme von sexuell übertragbaren Erkrankungen (STD) beobachtet. Wie ist die Situation in Deutschland?

Dr. Viviane Bremer: In Deutschland haben wir seit den 50er Jahren für Syphilis und seit 1993 für HIV eine allgemeine Meldepflicht. Anhand dieser können wir beobachten, daß die Syphilis-Zahlen seit 2001 kontinuierlich steigen, allerdings ausschließlich bei Männern. Die HIV-Zahlen nehmen ebenfalls seit etwa zwei Jahren wieder zu.

FuP: Wie erklären Sie sich das?

Bremer: Die steigenden Erkrankungszahlen sind primär auf die Gruppe von Männern zurückzuführen, die Sex mit Männern haben. Bei Syphilis zum Beispiel sind zu 90 Prozent Männer betroffen. Und hier wissen wir von 76 Prozent, daß sie Sex mit Männern haben.

Generell werden leider zu selten Kondome benutzt. Wir sind dabei, eine Befragung zu starten, die klären soll, warum diese Männer sich wieder vermehrt anstecken.

FuP: Wie kommt man an Zahlen zur Häufigkeit von anderen STD? Was leistet hierbei das Sentinel-System, das Ende 2002 vom RKI aufgebaute bundesweite Erfassungssystem für STD?

Bremer: Hierbei dienen verschiedene Einrichtungen des Gesundheitswesens als Wachtposten, als sogenannte Sentinels. Zur Zeit sind etwa 250 Einrichtungen wie Gesundheitsämter, Fachambulanzen und Praxen in insgesamt 118 deutschen Städten an dem Sentinel-System beteiligt. Diese Einrichtungen erheben Daten zu den wichtigsten STD und melden uns diese.

FuP: Wie viele STD-Fälle werden im Sentinel-System durchschnittlich gemeldet?

Bremer: Unsere Wachtposten betreuen pro Quartal etwa 20 000 Klienten, von denen jedoch nur wenige infiziert sind. Durchschnittlich werden bei 180 von ihnen pro Quartal Chlamydien nachgewiesen, bei 110 wird Gonorrhoe festgestellt und bei 88 Syphilis.

Allerdings kann man vor allem bei Chlamydien davon ausgehen, daß diese Zahl viel zu gering ist, da viele Ärzte aufgrund fehlender Symptome keinen Test machen. Hier sehen wir mit dem Sentinel-System mit Sicherheit nur die Spitze des Eisbergs.

FuP: Es wird ja auch immer wieder über ein Chlamydien-Screening diskutiert. Wie sinnvoll ist ein solches Screening Ihrer Meinung nach?

Bremer: Ich persönlich halte solch ein Screening für sehr sinnvoll. Allerdings wissen wir im Moment noch nicht, bei welchen Personengruppen und in welchen Situationen man dieses Screening am besten ansetzt. Um die Prävalenz der Chlamydien-Infektionen besser einschätzen zu können, fehlt in Deutschland eine Studie, die klärt, welche Altersgruppen am meisten betroffen sind, welche Bildungsschichten, etc. Nur wenn uns eine Studie diese Ergebnisse liefert, können wir ein bundesweites Screening-Programm auch politisch empfehlen.

FuP: Welche Erkrankungen werden über das Sentinel-System sonst noch gemeldet?

Bremer: Außer HIV und Syphilis sind es zum Beispiel Gonorrhoe, Trichomonas vaginalis, Lymphogranuloma venereum. Bei Herpes genitalis und Humanen Papillomviren - HPV - bekommen wir keine Einzelfälle gemeldet, sondern nur die gesamte Zahl.

FuP: Wie ist hier die Verteilung?

Bremer: Bei HPV und Herpes sind etwa genauso viele Frauen wie Männer betroffen. Für HPV werden pro Quartal etwa 470 Fälle gemeldet, für Herpes sind es 250.

Insgesamt sind bei STD zu einem hohen Anteil nicht-deutsche Mitbürger betroffen. Dies hängt vermutlich damit zusammen, daß am Sentinel-System viele Gesundheitsämter beteiligt sind. Und in die Gesundheitsämter kommen viele Menschen aus Risikogruppen, die keine Krankenversicherung haben, die sich illegal in Deutschland aufhalten oder als Prostituierte arbeiten.

FuP: Können Sie aus den Meldungen Rückschlüsse auf das sexuelle Verhalten und auf Übertragungswege ziehen?

Bremer: Ja. Wir unterscheiden nach Anzahl der Sexualpartner zwei Gruppen: Zur einen gehören Frauen, die einen, höchstens zwei Partner in den vergangenen sechs Monaten hatten. Zur anderen Gruppe gehören Frauen, die sehr viele Partner hatten, zum Beispiel, weil sie professionell auf diesem Gebiet arbeiten. Bei Männern ist die Aufteilung ähnlich, etwa die Hälfte haben zwei bis drei Partner, die andere Hälfte der Männer haben sehr viele Partner. Das betrifft besonders solche Männer, die Sex mit Männern haben.

Bei Prostituierten ist es häufig so, daß sie ihren festen Partner als Infektionsquelle ansehen, da sie bei anderen Männern Kondome benutzen.

FuP: Sind Kondome denn 100prozentig sicher?

Bremer: Leider nein. Kondome sind zwar das einzige, was weitgehend schützt, aber sie schützen nicht 100prozentig. Eine Übertragung von Chlamydien, Gonorrhoe- oder Syphilis-Erregern ist also auch mit Kondom möglich, wenn auch weitaus weniger wahrscheinlich. Diese Infektionen werden übrigens auch durch Oral-Verkehr übertragen. Hierbei werden ja oft keine Kondome benutzt.

FuP: Wie häufig sind Doppel- oder Dreifach-Infektionen?

Bremer: Mehrfach-Infektionen sind relativ häufig. Bei elf Prozent der Syphilis-Patienten wird auch HIV festgestellt. Mit 14 Prozent noch häufiger ist die Konstellation Chlamydien plus Gonorrhoe. Oft werden auch Chlamydien zusammen mit anderen Urethritis-Erregern wie Mykoplasmen oder HPV diagnostiziert.

FuP: Werden die Erreger bei jedem Geschlechtsverkehr weitergegeben?

Bremer: Chlamydien sind nicht so hochansteckend wie etwa Syphilis-Erreger. Bei einer frischen Syphilis ist die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken, sehr hoch. Bei Gonorrhoe muß man durchschnittlich vier- bis zehnmal Sexualkontakt haben und bei Chlamydien noch häufiger, um sich zu infizieren.

FuP: Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Beobachtungen für den Praxisalltag? Was können niedergelassene Kollegen tun?

Bremer: Hier ist die Message: Dran denken und testen! Und dabei vor allem auch mögliche Mehrfachinfektionen nicht vergessen.

Das Hauptproblem ist, daß viele STD kaum oder keine Symptome hervorbringen. Syphilis zum Beispiel wird häufig, besonders bei Frauen, erst im späten, also im Latenz-Stadium diagnostiziert. Die Frauen sind zu dem Zeitpunkt bereits länger als ein Jahr infiziert und haben die Infektion dann auch schon weitergegeben.

Bei Chlamydien ist es ähnlich, da bis zu 70 Prozent der Frauen gar keine Symptome haben. Und man geht aufgrund von internationalen Beobachtungen davon aus, daß bis zu zehn Prozent der sexuell aktiven Frauen, vor allem wenn sie wechselnde Partner haben, mit Chlamydien infiziert sind.

Man sollte also vor allem bei Frauen mit häufig wechselnden Partnern testen. Eine Chlamydien-Diagnostik wird von den Krankenkassen jedoch nur bezahlt, wenn Symptome vorhanden sind oder ein Verdachtsmoment besteht.

FuP: Welche Möglichkeiten der Labordiagnostik hat der Niedergelassene?

Bremer: Bei Syphilis genügt letztendlich ein Suchtest, der sogenannte TPHA oder TPPA (Treponema pallidum Häm- bzw. Partikel-Agglutinationstest, Anm. der Redaktion). Dabei handelt es sich um einen spezifischen Antikörpertest.

Bei Chlamydien werden aus Kostengründen in der Praxis leider häufig unzureichende Tests wie ELISA oder Schnelltests benutzt. Sie bringen viele falsch negative und falsch positive Ergebnisse. Der einzige Chlamydien-Test, der zuverlässig ist, ist die PCR, die allerdings recht aufwendig und teuer ist.

FuP: Gibt es Präventionsmaßnahmen, die der niedergelassene Arzt empfehlen kann?

Bremer: Außer der Verwendung von Kondomen ist auf jeden Fall eine Hepatitis-B-Impfung sinnvoll. Sie wird besonders für Männer empfohlen, die Sex mit Männern haben.

Diese Impfung gehört seit 1995 zu den Standardimpfungen und wird von der Ständigen Impfkommission (STIKO) des Robert-Koch-Institutes unter anderem für alle Säuglinge, Kinder und Jugendliche empfohlen. Weiterhin sollten sich natürlich alle Personen aus Risikogruppen impfen lassen.

FuP: Im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland wird mit steigenden STD-Zahlen gerechnet. Gibt es hier bereits Vorkehrungen?

Bremer: Auf Bundesebene und in den Gesundheitsämtern ist man sich der Gefahr bewußt. Geplant sind zum Beispiel Kampagnen in mehreren Großstädten. Hier könnte man an Orten, an denen sich vermehrt Menschen begegnen - sei es in der Schwulen-Szene, sei es in normalen Cafes - mehrsprachige Poster anbringen, die zum Kondomgebrauch auffordern. Ich halte es auf jeden Fall für sinnvoll, den Menschen die Gefahr ins Gedächtnis zu rufen.

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