Medizinische Irrtümer

Lehrbuch-Wissen mit begrenzter Haltbarkeit

Von Professor Stephan Martin Veröffentlicht:
Lehrbuch-Wissen mit begrenzter Haltbarkeit

© Stephan Martin

In der Medizin halten sich Irrtümer oft hartnäckig, weil sie über viele Jahre einfach nicht hinterfragt werden. Das beste Beispiel ist der angeblich hohe Eisengehalt von Spinat. Dieser war 1890 von dem Physiologen Gustav von Bunge in 100 g getrocknetem Spinat bestimmt worden.

Die Angabe wurde in Folge für die gleiche Menge von frischem Spinat weitergegeben, der aber nur ein Zehntel dieser Menge enthält. Das führte dazu, dass Kleinkinder jahrzehntelang bevorzugt mit Spinat gefüttert wurden.

In den letzten Wochen sind nun in einer renommierten Zeitschrift zwei Arbeiten erschienen, die ebenfalls mit tradierten Wahrheiten aufräumen. In der ersten Arbeit haben US-Wissenschaftler sich mit der Behauptung auseinandergesetzt, dass die durch Nahrung aufgenommene Fruktose in das Portalvenensystem aufgenommen und in der Leber verstoffwechselt wird (Cell Metab. 2018; 27: 351).

Mit Isotopenmarkierungen und massenspektrometrischen Untersuchungen konnte nun nachgewiesen werden, dass Fruktose in den üblichen Mengen in der Darmmukosa komplett zu Glukose und organischen Säuren abgebaut wird. Nur bei hohen Fruktosemengen scheint die Kapazität dieses Mechanismus überlastet zu sein und Fruktose gelangt in die Leber.

Wie kann man sich diese Erkrankungen erklären?

Die Befunde sind in Hinblick auf epidemiologische Daten interessant, die strenge Korrelationen zwischen Fruktoseaufnahme und metabolischen Erkrankungen wie nicht-alkoholische Steatohepatitis (NASH) oder Typ-2-Diabetes aufzeigen. In Folge wird die Fruktose-Metabolisierung in der Leber als pathogenetische Ursache der Krankheiten gesehen.

Doch wie kann man sich diese Erkrankungen nun erklären, wenn die Fruktose die Leber überhaupt nicht erreicht? Gelangt Fruktose in flüssiger Form zum Beispiel über Fruchtsäfte oder gesüßte Softdrinks in den Darm, könnte dies kurzzeitig die Umwandlung zu Glukose in der Darmmukosa überlasten und in Folge Fruktose in die Leber gelangen, spekulieren die Autoren.

Dies würde auch erklären, warum in den epidemiologischen Studien nicht der Konsum von fruktosehaltigen Früchten, sondern hauptsächlich von entsprechenden Getränken mit metabolischen Erkrankungen assoziiert ist.

Eine weitere Studie beschäftigt sich mit der Therapie von Patienten mit Fettleber. Bisher galt hier nur eine Gewichtsabnahme durch eine hypokalorische Ernährung als einzig wirksame Therapieform (Cell Metab. 2018; online 7. Februar).

Kohlenhydratanteil von unter 30 g am Tag

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An der aktuellen Studie nahmen zehn adipöse Probanden mit nachgewiesener Fettleber teil. Diese bekamen 14 Tage eine Diät mit im Mittel 3115 kcal.

Die Besonderheit dieser Kost war ein Kohlenhydratanteil von unter 30 g am Tag. Die Probanden nahmen daher im Behandlungszeitraum im Mittel nur weniger als zwei Prozent ihres Körpergewichts ab.

Der Fettgehalt der Leber verringerte sich in dieser Zeit jedoch um 43,5 Prozent. Schon nach einem Tag mit dieser Ernährung nahmen Leberfett und Lebervolumen signifikant ab. Auch VLDL- und Nüchterntriglyceride wurden signifikant reduziert.

In weiteren Untersuchungen konnte eine Änderung des Darmmikrobioms in Richtung von Bakterien nachgewiesen werden, die in der Lage sind Folat zu produzieren, das sich wiederum günstig auf die Leberfunktion auswirkt.

In Anbetracht der steigenden Zahlen an Patienten mit Fettleber oder NASH in der klinischen Routine sind diese Daten von besonderer Bedeutung: Man muss den Betroffenen nur eine Ernährungsumstellung und keine strenge Reduktionsdiät mehr verordnen.

Aufgrund der beiden Arbeiten müssen jetzt die bestehenden Lehrmeinungen überprüft und die Lehrbücher umgeschrieben werden!

Professor Stephan Martin ist Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf.

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