"Entscheidende Beiträge in der Krebsforschung"

Der neue Leiter des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), Professor Otmar Wiestler, will ihm eine neue Richtung geben. Das Zentrum soll sich stärker darauf konzentrieren, Ergebnisse aus der Forschung in neue Diagnose- und Behandlungsverfahren für Patienten mit Krebs umzusetzen, erläuterte der Wissenschaftler im Gespräch mit Ingeborg Bördlein, Mitarbeiterin der "Ärzte Zeitung".

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Ärzte Zeitung: Professor Wiestler, Sie haben das Ruder im DKFZ vor fast einem Jahr übernommen. Wo geht die Fahrt hin?

Wiestler: In der vergangenen Epoche hat ein wesentlicher Schwerpunkt unserer Arbeiten darin gelegen, grundlegende Mechanismen bei der Entstehung von Krebserkrankungen zu verstehen. In den letzten zehn Jahren ist unser Wissen auf diesem Gebiet explodiert. Durch Errungenschaften der Genomforschung und der Zellbiologie sind mittlerweile wesentliche Störungen im Erbgut und im zellulären Stoffwechsel von Krebszellen entschlüsselt. Wir möchten nun auf dieser Grundlage aufbauen und uns stärker darauf konzentrieren, Ergebnisse aus der Forschung in neue Diagnose- und Behandlungsverfahren für Patienten mit Krebs umzusetzen.

Neue inhaltliche Schwerpunkte liegen in einer Verstärkung der Erforschung von Krebserkrankungen des Gehirns sowie im Aufbau eines neuen Forschungsgebiets zum Thema Krebs-Stammzellen. Weiterhin haben wir begonnen, einige am Standort Heidelberg besonders intensiv erforschte und betreute Krebsarten im Rahmen von Netzwerken mit universitären und anderen Partnern zu untersuchen. Hier entstehen momentan neue Initiativen auf den Gebieten des Lungenkarzinoms, des Pankreaskarzinoms und der Gliome.

Ärzte Zeitung: Ist die Krebsforschung jetzt beim Patienten angekommen?

Wiestler: In der Tat hat die Krebsforschung hier einen wesentlichen Wandel vollzogen. Mit der Erkenntnis, daß genetische Veränderungen eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Tumorerkrankungen spielen und der kürzlich erfolgten Entschlüsselung des menschlichen Genoms, verlagert sich der Schwerpunkt vieler Forschungsarbeiten nun zunehmend auf die Untersuchung menschlicher Tumorgewebe und menschlicher Tumorzellen. Um dieses Gebiet weiter zu befördern, gehen wir mannigfache Allianzen mit Forschern aus der Universitätsklinik, aus anderen Forschungseinrichtungen und auch aus der Industrie ein.

Nach wie vor kommt allerdings auch der Untersuchung von Tiermodellen eine große Bedeutung zu. Hier stehen inzwischen transgene Mäuse, in denen gezielt Veränderungen in Krebs-assoziierte Gene eingefügt werden, an erster Stelle. Diese Tiermodelle sind notwendig, um grundlegende Vorgänge der Krebsentstehung zu verstehen; sie bilden jedoch auch eine wichtige Grundlage zur Entwicklung und Überprüfung von Diagnose- und Therapieverfahren.

Ärzte Zeitung: In Deutschland stirbt noch immer die Hälfte der Krebskranken an ihrem Leiden. In anderen Ländern sind die Heilungsraten besser. Was wurde in der Krebsforschung oder der Therapie in Deutschland falsch gemacht?

Wiestler: Die Tatsache, daß Heilungschancen für Patienten mit Krebs in Deutschland ungünstiger sind als in manchen anderen Ländern ist nach meiner Einschätzung nicht der Krebsforschung anzulasten. Ein wesentliches Problem scheint mir eher darin zu bestehen, daß die Versorgung von Krebspatienten in unserem Land prinzipiell anders organisiert ist als etwa in den USA oder in skandinavischen Nationen. Während unser Medizinsystem sehr stark auf Fachärzte setzt, bauen ausländische Zentren stärker auf eine fachübergreifende Betreuung von Krebspatienten durch ein Team von Experten und nach vereinbarten Standards. Da wir den letzteren Weg ebenfalls als den besseren ansehen, unternehmen wir in enger Zusammenarbeit mit Partnern aus dem Universitätsklinikum Heidelberg und der Thoraxklinik in Heidelberg-Rohrbach momentan den Versuch, im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg die Behandlungswege für Tumorpatienten grundlegend zu verändern.

Ärzte Zeitung: Der Weg in die Anwendung scheint in Deutschland steiniger zu sein als etwa in den USA. Wo liegen die Hindernisse, und wie sind diese zu beseitigen?

Wiestler: In der Vergangenheit wurden Anwendungen von Ergebnissen aus der Krebsforschung dadurch erschwert, daß Krebsforschung und Krebsmedizin noch nicht ausreichend vernetzt waren. Mittlerweile werden jedoch mannigfache Verbindungen aufgebaut, um dieses Defizit auszugleichen. Ein eindrückliches Beispiel für diese Entwicklung ist das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg, wo das Deutsche Krebsforschungszentrum, das Universitätsklinikum Heidelberg, die Universität Heidelberg, die Thoraxklinik in Heidelberg-Rohrbach und die Deutsche Krebshilfe eine langfristige strategische Allianz eingehen, um auf der Basis einer neuen Qualität der Versorgung von Krebspatienten Forschungsergebnisse sehr viel schneller in die Klinik zu übertragen.

Ein Problem für diese Arbeiten war bislang auch, daß die forschende Arzneimittelindustrie in Deutschland durch eine ausgeprägte Schwächephase geht. Diese kann dadurch überwunden werden, daß industrielle Partner in solche strategischen Allianzen einbezogen werden. Wenn es gelingt, die entscheidenden Spieler auf diese Weise zusammenzubringen, kann Deutschland auf diesem wichtigen Sektor eine international führende Rolle übernehmen.

Ärzte Zeitung: Ihr wissenschaftliches Interesse galt vor ihrer Zeit als DKFZ-Chef der Stammzellforschung. Ist dieses Gebiet auch für die Krebsforschung von Interesse? Denken Sie daran, dieses Forschungsgebiet auch am DKFZ zu etablieren?

Wiestler: In der Tat halte ich die Stammzellforschung auch für das Krebsproblem für wichtig. Dieses beruht darauf, daß Stammzellen und Krebszellen eine erstaunliche Zahl von Merkmalen teilen. Beispiele schließen die große Vielgestaltigkeit von Krebszellen trotz identischen Erbguts, die Steuerung ihres Wachstums, die vielfältige Interaktion zwischen Krebszellen und Zellen des normalen Gewebes sowie die Eigenschaft ein, daß Krebszellen sich nicht selten wie Stammzellen über lange Zeit in Nischen des Körpers verbergen. Schließlich spricht auch vieles dafür, daß Krebserkrankungen im erwachsenen Körper sich aus adulten Stammzellen entwickeln. Um die vielen Überlappungen zwischen beiden Forschungsgebieten zu nutzen, bauen wir derzeit einen Forschungsschwerpunkt zum Thema Tumor-Stammzellen auf.

Ärzte Zeitung: Wie läßt sich eine exzellente wissenschaftliche Arbeit trotz der Sparzwänge fortführen?

Wiestler: Das DKFZ ist in der günstigen Situation, daß es als Einrichtung der Helmholtz-Gemeinschaft vom Bund (90 Prozent) und vom Land Baden-Württemberg (10 Prozent) eine stabile Grundfinanzierung erhält. Ohne Einwerbung von Forschungsdrittmitteln, welche sich derzeit auf etwa 30 Millionen Euro pro Jahr belaufen, könnte das Zentrum seine international führende Stellung allerdings nicht behaupten. Um angesichts der großen Zukunftsaufgaben in der translationalen Forschung auch künftig konkurrenzfähig zu bleiben, müssen wir neue Quellen der Unterstützung erschließen. Gedacht ist unter anderem an eine intensivere Zusammenarbeit mit privaten Sponsoren und Mentoren, welche sich Anliegen der Krebsforschung zu eigen machen.



Ein Zentrum mit vielen herausragenden Projekten

Die Genomforschung hat mit der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts die Krebsforschung entscheidend beflügelt. Professor Otmar Wiestler: "Für eine große Zahl von Tumorerkrankungen sind mittlerweile ursächliche Veränderungen im Genom und die damit zusammenhängenden Störungen der Signalübertragung in Tumorzellen in Grundzügen verstanden. Auch unser Haus hat auf diesem Gebiet entscheidende Beiträge geleistet. Gerne greife ich einige Arbeitsgruppen exemplarisch heraus."

  • Der Abteilung von Professor Peter Lichter ist es in den zurückliegenden Jahren gelungen, Verfahren zum empfindlichen Nachweis kleiner genetischer Defekte aus dem menschlichen Chromosom zu entwickeln. Mit Hilfe dieser komparativen genomischen Hybridisierung (CGH) ist es nicht nur möglich, neue Veränderungen des Erbguts aufzuspüren; insbesondere hat sich auch gezeigt, daß ein bestimmtes Spektrum genetischer Defekte bessere Voraussagen zum Verlauf von Leukämien und anderen Krebserkrankungen sowie zu ihrem Ansprechen auf bestimmte Behandlungsverfahren erlaubt.
  • Durch die Erfassung von Genexpressionsprofilen mit Chip-basierten Methoden konnte die Abteilung von Frau Professor Annemarie Poustka wichtige Muster von Signalveränderungen für verschiedene Krebsarten nachweisen. Auch hier steht eine Übertragung in diagnostische Anwendungen bevor.
  • Im Umfeld des Arbeitskreises von Professor Werner Franke konnte der Nachweis von Zellskelettstrukturen dazu genutzt werden, die Diagnose von Tumoren an pathologischen Präparaten entscheidend zu verbessern.
  • Mit dem Konzept des programmierten Zelltods und dem Verständnis seiner Auslösung hat Herr Professor Peter Krammer ein entscheidendes neues biologisches Prinzip entdeckt. Da sich Krebszellen häufig dem programmierten Zelltod entziehen, wird momentan intensiv an Strategien zur Auslösung der Apoptose in Tumoren gearbeitet.
  • Herr Professor Christof Niehrs und seine Mitarbeiter haben neue Signalübertragungswege entdeckt, welche sowohl während der Entwicklung des Organismus als auch beim gestörten Wachstum von Tumorzellen eine kritische Rolle spielen. Hier ist eine sehr erfolgreiche Synthese der Entwicklungsbiologie mit der Krebsforschung gelungen.
  • Traditionell zählt das DKFZ zu den Pionieren bei der Erforschung der Rolle von Viren als Auslöser von Krebs. Hier ist vor allem die im Arbeitskreis von Herrn Professor Harald zur Hausen entdeckte und intensiv untersuchte Rolle von menschlichen Papillomviren zu nennen. Aufbauend auf Untersuchungen aus unserem Haus beginnen derzeit weltweite Studien, um gegen Krebs-auslösende Papillomviren zu impfen. Damit öffnet sich ein neuer Weg zur Prävention von Gebärmutterhalskrebs und anderen Tumoren.
  • Herausragende Beiträge leistet das DKFZ seit längerer Zeit auch zur Entwicklung neuer Verfahren der Strahlentherapie. Die Mehrzahl der wesentlichen Neuerungen auf diesem Gebiet gehen auf Forschungsergebnisse aus dem DKFZ zurück.
  • Schlaglichtartig sind hier einige Beispiele genannt. Nur aus Platzgründen können andere wichtige Beiträge nicht genannt werden.

Lesen Sie dazu auch: Forschung und Medizin für Krebs-Patienten Zentrale Anlaufstelle für Tumorpatienten

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