Von wegen Innovations-Weltmeister

Bei klinischen Studien ist Deutschland Mittelmaß

Deutschland schöpft sein Potenzial bei nicht-kommerziellen oder wissenschaftsgetriebenen klinischen Studien nicht aus, moniert der Wissenschaftsrat. Wo liegen die Engpässe?

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Weiter Weg zum zugelassenen Medikament: Deutschland spielt bei klinischen Studien nicht in der ersten Liga.

Weiter Weg zum zugelassenen Medikament: Deutschland spielt bei klinischen Studien nicht in der ersten Liga.

© Soeren Stache / ZB / dpa

BERLIN. Der Stand der klinischen Forschung in Deutschland ist bestenfalls Mittelmaß. Vor allem bei nicht-kommerziellen Studien, die eigentlich vom Staat finanziert werden müssen, liegt Deutschland weit hinter den USA, Großbritannien und den Niederlanden zurück. Dieses Resümee hat der Wissenschaftsrat gezogen und Empfehlungen publiziert.

"Deutschland ist Innovationsweltmeister", jubelte "Spiegel online" kürzlich. Der Grund: Das Weltwirtschaftsforum hatte in seiner jährlichen "Studie zur Wettbewerbsfähigkeit" Deutschland anhand von zehn Kriterien bescheinigt, das Land biete die besten Voraussetzungen, um innovative Prozesse von der Idee bis zur Vermarktung zu realisieren.

Deutschland verfüge über starke Forschungsinstitute, erfolgreiche Cluster sowie eine gute Zusammenarbeit verschiedener Stakeholder, womit auch die betriebliche Mitbestimmung gemeint ist. Weitere Pluspunkte: niedrige Inflation und solide Staatsfinanzen.

Alles in Ordnung? Weiter so Deutschland? Nicht unbedingt! In den letzten Tagen hat der Wissenschaftsrat seine Analyse der Situation klinischer Studien samt Empfehlungen veröffentlicht – und hier zeigt sich alles andere als ein Bild vom Weltmeister.

Klinische Studien sind ein Schlüssel zum medizinischen Fortschritt in der Patientenversorgung. Sie dienen dem Ziel, Prävention, Diagnose und Therapie von Krankheiten konkret und evidenzbasiert zu verbessern. Der Befund des Wissenschaftsrats:

» Von 2007 bis 2017 ist die Zahl der klinischen Studien nach dem Arzneimittelgesetz, an denen Deutschland beteiligt war, von 1400 auf etwa 1000 gesunken.

» Von den im Lancet, JAMA und NEJM zwischen 2007 und 2017 erschienenen Publikationen stammten jährlich zwischen 100 und 180 aus den USA, zwischen 30 und 60 aus Großbritannien und im Schnitt deutlich weniger als 20 aus Deutschland.

» Gemessen an Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft sind die Niederlande und Großbritannien die publikationsproduktivsten Länder.

Negative Folgen für Patienten

Weiter stellt der Wissenschaftsrat fest, dass das Potenzial nicht-kommerzieller oder wissenschaftsgetriebener klinischer Studien "nicht ausgeschöpft ist – mit negativen Folgen für Patienten und für das gesamte Gesundheitswesen".

Es gebe einen nicht gedeckten Bedarf vor allem an solchen klinischen Studien, die meist ressourcen-, zeit- und personalintensiv die offenen komplexen Fragen der medizinischen Versorgung adressieren und zur Entwicklung von Entscheidungsgrundlagen, Standards und Leitlinien beitragen.

Solche Studien seien ein wichtiger Beitrag zur Steigerung von Qualität und Effizienz der Versorgung. "Für diesen Typus klinischer Studien gibt es in Deutschland kein spezielles Förderangebot", kritisiert der Wissenschaftsrat. Das sei angesichts des "rasanten medizinischen Fortschritts – etwa durch die personalisierte Medizin – problematisch".

In der Verantwortung sieht der Rat Bund, Länder – und die Krankenkassen sowie den Gemeinsamen Bundesausschuss. Sie müssten Förderformate für die gesamte Bandbreite klinischer Fragestellungen bieten und vor allem auch zeitaufwendige (fünf bis zehn Jahre) und kostenintensive (fünf bis zehn Millionen Euro) Studien ermöglichen.

Medizinische Fachgesellschaften sollten dabei einbezogen werden. Bestehende Förderinstrumente der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Bundesforschungsministeriums müssten auf diese aufwendigen Studien neu fokussiert werden.

Kassen sollten mit ins Boot

Ferner müssten die Möglichkeiten des Innovationsfonds beim GBA zur Finanzierung praxis- und versorgungsorientierter klinischer Studien besser genutzt werden. Wissenschaftler aus klinischen Fächern sollten in den Auswahlprozess beim GBA stärker einbezogen werden.

Zusätzlich sollte die Option, Krankenkassen im Rahmen der Erprobungsrichtlinien nach Paragraf 137e SGB V zur Finanzierung klinischer Studien einzubeziehen, stärker genutzt werden.

Ein finanzielles Engagement der Kassen in Höhe von einem Promille ihrer Gesamtausgaben – das wären 230 Millionen Euro – sei "ökonomisch durch das aus Studien resultierende Einsparpotenzial zu rechtfertigen". Aber auch die Industrie könne nicht-kommerzielle Studien mitfördern, indem sie Prüfpräparate kostenlos zur Verfügung stelle.

Verbesserungsbedürftig ist auch der organisatorische Rahmen für klinische Studien. Dazu müssten an allen Standorten, an denen klinische Studien stattfinden, indikationsoffene "Clinical Trial Units" als Basisinfrastruktur etabliert werden. Für eine dauerhafte Finanzierung müssten die Länder gerade stehen.

Standorte, die einen ausgewiesenen profilbildenden Schwerpunkt bei klinischen Studien haben, müssten die erhöhten Anforderungen an die Infrastruktur in sogenannten "Specialized Clinical Trial Units" realisieren. Den Aufbau solcher Strukturen müsse das Bundesforschungsministerium fördern.

Noch nicht gut verankert sei die Einbeziehung von Patientenorganisationen bei der Entwicklung und Konzeption klinischer Studien.

Hier werde es darum gehen, die Kompetenzen und die Professionalisierung der Patientenvertretungen zu fördern, aber auch die patientenorientierte Kommunikationskompetenz von Wissenschaftlern zu verbessern.

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