Regionale Gesundheitsversorgung

Kommunen brauchen Zuständigkeit für die Gesundheit

Beim Hauptstadtkongress nehmen Gesundheitsökonomen den Staat in die Pflicht, Kommunen Spielraum für die Gestaltung und Steuerung der Gesundheitsversorgung zu geben – inklusive Budget für die Honorierung.

Matthias WallenfelsVon Matthias Wallenfels Veröffentlicht:
Wir brauchen einen politischen Big Bang, sagt Professor Josef Hilbert auf dem Hauptstadtkongress.

Wir brauchen einen politischen Big Bang, sagte Professor Josef Hilbert auf dem Hauptstadtkongress.

© Rolf Schulten

Berlin. „Regionen sind der große Hebel zum Einstieg in die Gesundheitsversorgung von morgen“ – für Professor Lutz Hager, Vorsitzender des Bundesverbandes Managed Care (BMC) steht es außer Frage, dass die medizinische Versorgung der Zukunft auf neue Füße gestellt werden muss, wie er am Mittwoch beim Hauptstadtkongress in Berlin bekundete.

Knackpunkt: „In den Kommunalverfassungen steht nicht drin, dass die Gemeinden für die Gesundheit ihrer Bürger zuständig sind.“ Das sollten sie aber nach Hagers Meinung sein. Denn dann könnten sie dafür auch ein Budget im Haushalt vorsehen. „Wir brauchen Vergütungssysteme, die sich am Population Health Management orientieren und in denen Kommunen die neuen Leistungserbringer, die kommen werden, bezahlen können“, ergänzte Hager.

Ein weiterer, zentraler Aspekt sei die konsequente Einbindung der digitalen Komponente in die regional oder kommunal organisierte – und vor allem gesteuerte – Gesundheitsversorgung inklusive digitaler Disease-Management-Programme (DMP). „Die regionale Versorgung ist das Smartphone, sie ist im Smartphone“, resümierte er.

Ruf nach „Fonds für Innovationsgestaltung“

Professor Josef Hilbert, Vorsitzender des Netzwerks Deutsche Gesundheitsregionen (NDGR), sieht es als positives politisches Signal aus Berlin, dass im Koalitionsvertrag der Ampel die Förderung der Gesundheitsregionen als Ziel verankert sei. Als Bremser sieht er hingegen den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Konkret: Der Innovationsfonds gebe Anreize über seine Förderprojekte, die dann aber am Ende ihrer Laufzeit meist im Sande verliefen und es nicht in die Regelversorgung schafften. „Wir brauchen einen politischen Big Bang. Wir können bessere Versorgung und wir müssen es dauerhaft und breit machen. Aber aus Berlin brauchen wir mehr Rückenwind!“, so Hilbert. Die Aufgabe: Die Forderung müsse so formuliert sein, dass es im politischen Berlin verstanden werde.

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Wie Hager, plädiert auch Hilbert für ein kommunales Gesundheitsbudget: „Wenn es gelingt, dass die Kommunen Gesundheitsleistungen steuern und honorieren können, dann sparen sie Sozialleistungen. Heute würde es ihnen die Finanzaufsicht wegen fehlender Zuständigkeit verbieten.“ Als Vehikel, um eine kommunal gesteuerte Gesundheitsversorgung doch zu realisieren, brachte Hilbert einen „Fonds für Innovationsgestaltung“ ins Spiel, der dann auch ehemalige Innovationsfonds-Förderprojekte fortlaufen lassen könne.

Begründungspflicht für Kassen gefordert

Ebenfalls mit im Boot sehen will Hilbert die Kassen. Er fordert für kommunale Projekte ein Antragsrecht auf Honorierung durch die Kassen – und eine Begründungspflicht bei Ablehnung. So würde auf die Kostenträger genügend Druck ausgeübt, ist sich Hilbert sicher. Um die Kassen nicht über den Tisch zu ziehen, sei im Gegenzug aber auch ein anständiges Monitoring sowie ein tragendes Geschäftsmodell notwendig. Dafür wiederum bräuchten kommunale Akteure eine Beratungsstelle für Wirkungsmonitoring, eine „Enabling- und Unterstützungsinstanz“.

Irina Cichon, bei der Robert Bosch Stiftung Senior Projektmanagerin, erinnerte daran, dass die Bürger in Umfragen der Stiftung immer wieder die Forderung nach einem niederschwelligen Zugang zur Versorgung erhöben. „Unser Gesundheitssystem braucht einen Paradigmenwechsel. Nachwievor ist es auf Akutversorgung ausgerichtet und nicht auf den Vorrang der Gesunderhaltung“, so Cichon. Als ein entsprechend niederschwelliges Angebot sehe sie die Primärversorgungszentren. Ein weiterer zentraler Baustein der künftigen, regional fokussierten Versorgung seien Community Health Nurses. Deren Berufsbild müsste aber dringend noch bedarfsgerecht definiert werden. Berufsbild als wichtiger Baustein in der Versorgung.

Wichtig sei zudem, den Kommunen Freiräume beim Gesundheitsmanagement ihrer Bürger einzuräumen. „Hier darf es keine bundeseinheitliche Steuerung von Projekten geben“, so Cichon. Bei einer kommunal aufgesetzten, vernetzten Versorgung könnten auch unterschiedliche Krankheitsspektren adressiert werden und sich Kommunen mit ihrem Angebot in der Region ergänzen. Das sei nicht als Konkurrenz misszuverstehen, sagte sie mit Blick auf Landeskrankenhauspläne, die örtliche Kapazitäten auf Klinikseite infragestellten.

Plädoyer für mindestens zehnjährige Laufzeit

Für Professor Andreas Beivers, bei der Stiftung Münch für deren wissenschaftlichen Projekte verantwortlich, wäre regionaler Wettbewerb ein Qualitätstreiber der Versorgung. „Ambulantisierung macht nur Spaß, wenn alle gewinnen können“, warb der Gesundheitsökonom für regionale Gesundheitsbudgets. Hier könne es sogar zu interkommunalen Verrechnungen bei den regionalen Gesundheitsbugets kommen, wenn sich die Versorgung beispielsweise indikationsspezifisch ausrichte und dafür auch Patienten aus den Nachbarkommunen versorgt würden.

Um regional-zentrierte Versorgungsprojekte fundiert evaluieren zu können, bedürfe es einer mindestens zehnjährigen Laufzeit, wie er betonte. Qualitätsfördernd sei auch eine Veröffentlichungspflicht in puncto Evaluation. Auch regionale Gesundheitsbudgets seien für die Leistungserbringer nicht als Füllhorn misszudeuten. „Es gibt immer Fehlanreize, Fehlverhalten muss stark sanktioniert werden“, so Beivers.

Madeleine Renyi, beim Gesunden Kinzigtal Projektmanagerin, hob ihre privatwirtschaftlich getragene Versorgungsform als Trendsetter auch für die Zukunft hervor. „Wir sind Vernetzer, Multiplikator und Lückenfüller“, so Renyi. Derzeit verzeichne das sektorenübergreifende Gesunde Kinzigtal 8500 Teilnehmer bei 52 ärztlichen Leistungspartnern. Um die Versorgung in der Region noch zu verstärken, habe das Gesunde Kinzigtal im April sein erstes MVZ an den Start gebracht. Dies solle eine Lücke füllen in der Region – Angebote, für meist Ärztinnen, die für einen Lebensabschnitt nur in Teilzeit ihrem Beruf nachgehen wollten.

Lokale Sportvereine in Diabetes-Prävention einbinden!

Wie Ralf Schmallenbach, Sozial- und Gesundheitsdezernent des Oberbergischen Kreises und Vorstandsmitglied der Gesundheitsregion KölnBonn, betonte, stelle eine Gesundheitsverantwortung für Kommunen auch eine große Herausforderung dar. Er spricht aus Erfahrung, da er die kommunale Konsortialführung für das Innovationsfondsprojekt Oberberg_ FAIRsorgt innehat. Wie er in Berlin sagte, habe der Oberbergische Kreis nun – als Kontrapunkt zum aktualisierten NRW-Landeskrankenhausplan – ein eigenes Bedarfsplanungsgutachten in Auftrag gegeben.

Für Professor Günter Neubauer, Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomik (IfG) München, fliegt ein wichtiger lokaler Player bisher unter dem Radar der Gesundheitspolitiker in Berlin. „Wer vom Staat von einer steuerlichen Förderung profitieren kann, den kann man auch in die Pflicht nehmen, als örtlicher Sportverein obligatorische Sportförderungskurse anzubieten – zum Beispiel für übergewichtige Kinder“, so Neubauer. Über die Daten aus den Schuleingangsuntersuchungen wären übergewichtige Kandidaten zu identifizieren. Das hüle, langfristig die Diabetes-Prävalenz in Deutschland zu senken.

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