Viele suchen "medizinisch zertifizierten Guru"

Gute Innere Medizin ist die Anwendung von Wissenschaft durch gute Kunsthandwerker. Patienten erwarten jedoch oft Gurus, die sie zur spontanen Remission führen, so der DGIM-Vorsitzende Professor Jürgen Schölmerich im Manuskript seiner Eröffnungsrede. Hier Auszüge daraus:

Veröffentlicht:

Die postmoderne Gesellschaft, schreibt Schölmerich, hat auch die Beziehung zwischen Arzt und Patient stark verändert. "Aufklärung, Idealismus und Historismus sind nicht mehr Grundlagen des gesellschaftlichen Konsenses. Es gibt nicht mehr eine Erklärung, sondern viele. Damit geht die Legitimation von Institutionen, Praktiken und Ethik verloren." Massenmedien und Informationstechnologie seien jetzt die kulturellen Träger und Vermittler, dabei herrsche jedoch Beliebigkeit. "Nicht die tägliche erfolgreiche Arbeit wird als interessant befunden, sondern das Ungewöhnliche, das Sensationelle. "

Ärzte werden zu Experten im Transfer von Fachwissen

Für die Ärzte heiße das, sie müssen sich zu Experten im Transfer von Fachwissen entwickeln, das zwar allgemein verfügbar sei, aber nicht verstanden werde. Die mit der modernen Dienstleistungsgesellschaft vertrauten Patienten sähen Ärzte dabei zugleich als "Leistungserbringer", sich selbst als "Kunden". Ein Problem dabei, so Schölmerich: "Die ,Kunden‘ legen mehr Wert auf Prozesse, also nicht nur auf das Resultat, sondern auf das Gefühl während der Behandlung. Erkenntnis wird nur akzeptiert, wenn sie den eigenen Vorstellungen oder Vorurteilen entspricht oder in das eigene, oft irrationale Überzeugungsmuster passt. Die ,Kunden' wollen einen medizinisch zertifizierten Guru, der sie (ähnlich wie Thomas Gottschalk) zur Transzendenz und zur spontanen Remission führt." Dabei werde von Ärzten erwartet, dass sie den Spagat zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis einerseits und der viel älteren, häufig von Dogmen und Ideologien geprägten "Heilkunst" andererseits mühelos bewältigen.

Doch gerade der Fortschritt in den Biowissenschaften mit seinen vielen scheinbaren medizinischen Erfolgen habe zuletzt "die Spaltung zwischen Wissenschaft und Kunsthandwerk vertieft", so Schölmerich. "Jeden Tag wird ein neues Gen für eine bestimmte Krankheit entdeckt und mit großem Hallo formuliert, dass der Benefit vor der Tür steht - ohne dass sich die Handlungsanweisungen wesentlich verändern."

Aber genau die Anweisung zum Handeln sei ein Charakteristikum der Medizin: "Medizin braucht die Naturwissenschaften, ist selbst aber keine Naturwissenschaft. Sie ist auch keine angewandte Naturwissenschaft. Medizin zielt konstitutiv auf eine Anweisung zum Handeln."

Sowohl in Diagnostik als auch in Therapie gebe es entsprechend zwei Entscheidungsebenen des Arztes: "Die wissenschaftliche Ebene beantwortet die Frage, ob eine Aufgabe in Diagnostik, Prophylaxe, Therapie oder Prognose gut zu lösen ist. Die kunsthandwerkliche Ebene löst die Aufgabe, den individuellen Patienten dann gut und richtig zu beraten."

Entscheidend sei daher, angehende Ärzte zu zwei Dingen hinzuführen: "einerseits zu einer lebenslangen Hingabe an kritisch wissenschaftliches Denken bei der Behandlung von Krankheiten, und andererseits zu der Fähigkeit zu erkennen, wann sympathetische Empirie angezeigt ist, da das Fehlen von Kenntnis den ersten Ansatz unmöglich macht."

So würden Ärzte oft handeln ohne zu "wissen". Auch hier seien kognitive Leistungen zu erbringen; es handele sich aber nicht um "Wissen", sondern um "Meinen". "Letzteres liefert keineswegs a priori unzuverlässige Resultate, es ist lediglich ein noch nicht (wissenschaftlich) erprobter Modus von Erkennen." Doch selbst bei einem wissenschaftlich erprobten Modus, etwa einer Evidenz, die auf einer Signifikanzschwelle von p ‹ 0,05 beruht, stelle sich die Frage: "Wer zwingt uns, die arbiträre Schwelle, die lediglich bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit eines zufälligen Resultates geringer als fünf Prozent ist, für stabiler zu halten als beispielsweise sieben Prozent? Wer vermag zu definieren, dass diese Festlegung irgendetwas mit Relevanz für unser Handeln zu tun hat?"

Erfahrung und Evidenz - ein Arzt braucht beides

Schölmerich plädiert schließlich dafür, auch die evidenzbasierte Medizin kritisch zu betrachten: So werden etwa meist nur Arbeiten mit positivem Ergebnis publiziert. Das Fazit des DGIM-Vorsitzenden: "Auf Erfahrung basierende Maßnahmen sind nicht nur da, wo Studiendaten fehlen, oft die adäquaten, und werden dem Patienten eher gerecht als schematisches Abarbeiten einer Leitlinie. Wir müssen uns frei machen von vermeintlichen Zwängen, die uns unter den Mantel der forschungsbasierten Evidenz durch Leitlinien auferlegt werden, um dem einzelnen Patienten gerecht zu werden. Dennoch muss Wissenschaft als eine Grundlage der Medizin auch gegenüber Scharlatanen, Weissagern und der postmodernen Gesellschaft verteidigt werden."

Gute Innere Medizin, so Schölmerich, sei daher letztlich "die Anwendung von Wissenschaft durch gute Kunsthandwerker". (mut)

Medizin zielt auf eine Anweisung zum Handeln.

Prof. Jürgen Schölmerich

DGIM

Lesen Sie dazu auch: Sorge um Nachwuchs für die Königsdisziplin

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