Beckenbodentraining ist das A und O bei Harninkontinenz

Nach der International Continence Society ist Harninkontinenz definiert als der unfreiwillige Verlust von Urin; er ist objektivierbar und stellt ein soziales Problem dar. Soweit die nüchterne Theorie. In der Praxis leiden die Betroffenen oft massiv unter der Erkrankung. Spezielle Trainingsmethoden und Medikamente helfen, daß es erst gar nicht so weit kommt

Veröffentlicht:

Brigitte Willer

Angesichts der zu erwartenden demographischen Entwicklung und der damit verbundenen steigenden Inzidenz der Harninkontinenz ist es notwendig, sich mit den verschiedenen Formen der Harninkontinenz und den entsprechenden Therapien vertraut zu machen: Mit 49 Prozent überwiegt bei Frauen die Belastungsinkontinenz, gefolgt von der Mischinkontinenz mit 29 Prozent und der Dranginkontinenz mit 22 Prozent.

Belastungsinkontinenz

Die Therapie bei Belastungsinkontinenz muß individuell den Bedürfnissen der Patientin angepaßt werden. An erster Stelle steht:

  • Beckenbodentraining Ein aktives Beckenbodentraining ist zum einen gerade für jüngere Frauen als Prophylaxe hervorragend geeignet, damit sich eine Beckenbodenschwäche erst gar nicht zu einer schweren Harn-inkontinenz entwickelt. Zum anderen eignet sich das Training gut begleitend zu einer medikamentösen Therapie. Der Therapie-Erfolg hängt entscheidend von der Motivation der Patientin ab, regelmäßig über längere Zeit zu trainieren, von ihrer Fähigkeit, die Beckenbodenmuskulatur korrekt anzuspannen und von einer fachlichen Anleitung. Oft muß ein Gefühl für die Wahrnehmung des Beckenbodens erst mühsam entwickelt werden. Das Training selber besteht vor allem aus Muskelkontraktions-Übungen. Hierzu werden zum Beispiel Modalitäten wie Therapiedauer, Kontraktionsdauer, Dauer der Pausenintervalle festgelegt. Um das Gefühl für den Beckenboden zu schulen, eignen sich technische Hilfsmittel, die die Beckenbodenmuskulatur spürbar machen. So können Elektrostimulationsgeräte verwendet werden, bei denen Fasern des N. pudendus stimuliert werden und die eine Kontraktion der Beckenbodenmuskulatur auslösen. Gleichzeitig wird der Detrusor entspannt, so daß diese Methode auch bei der Harndranginkontinenz durch Detrusorhyperaktivität eingesetzt werden kann. Wenn die Patientin ein Gefühl für ihren Beckenboden entwickelt hat und ihn korrekt anspannen kann, erfolgt eine Anleitung zum Beckenboden-Training, eventuell in Verbindung mit Biofeedback. Hierbei wird die Beckenbodenkontraktion mit Hilfe von zum Beispiel visuellen Signalen bewußt gemacht. Die Erfolgsrate liegt bei der Belastungsinkontinenz 1. Grades bei 80 Prozent, und bei der 2. Grades bei 50 Prozent, wobei hier der Befund zumindest verbessert werden kann. Seit einiger Zeit gibt es auch ein Extracorporal Magnetic Innervation (ExMI)-Verfahren, bei dem die Patientin bekleidet auf einem Therapiestuhl sitzt. Im Stuhl ist ein Magnetkopf eingebaut, der Impulse erzeugt und fokussiert, die ungefähr acht Zentimeter tief in den Beckenboden eindringen und die Muskulatur abwechselnd kontrahieren und entspannen. Langzeitergebnisse zur Erfolgsrate stehen noch aus. Relativ neu ist eine Therapie mit dem Vibrationstrainer Galileo 2000. Dabei handelt es sich um eine bewegliche Plattform, die mit einer variablen Frequenz von 5 bis 30 Hertz schwingt. Es kommt daraufhin zu schnellen Muskelkontraktionen auch der Beckenbodenmuskulatur, die sich als Vibrationen des gesamten Körpers äußern. In Verbindung mit einer aktiven Physiotherapie kann sich die Belastungsinkontinenz deutlich verbessern.
  • Medikamentöse Therapie Hormontherapie: Östrogene verbessern zum einen am Urogenitaltrakt die Durchblutung, zum anderen verstärken sie die Wirkung der Alpha-Rezeptoren. Dafür reicht es zum Beispiel aus, eine östrogenhaltige Creme zweimal wöchentlich im Vaginalbereich aufzutragen oder dort ein Suppositorium einzuführen. Auch bei Risikofaktoren wie Östrogenrezeptor-positiven Mamma- oder Uteruskarzinomen ist diese Therapie unbedenklich. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer: Duloxetin (Yentreve®) ist ein Wiederaufnahmehemmer von Serotonin und Noradrenalin am präsynaptischen Neuron. Als Folge erhöht sich im synaptischen Spalt die Konzentration dieser Botenstoffe. Dort kann Serotonin die Rezeptoren der postsynaptischen Zielzelle, in diesem Fall des N. pudendus, wiederholt aktivieren und so die Kontraktion des quergestreiften Harnröhrenmuskels verstärken. Bei plötzlicher Druckerhöhung im Abdomen, etwa bei Husten, wird die Harnröhre geschlossen. In Studien profitierte jede zweite Frau von einer Therapie mit Duloxetin. Mögliche unerwünschte Wirkungen sind Obstipation, Übelkeit, Schwindel und Müdigkeit, die manchmal zum Therapieabbruch führen können.

Dranginkontinenz

Die Therapie von Patienten mit Dranginkontinenz umfaßt:

  • Miktionstraining,
  • Toilettentraining,
  • Medikamentöse Therapie,
  • EMDA-Therapie,
  • Elektrostimulation,
  • Botulinumtoxin und
  • Operative Verfahren.
  • Miktionstraining Ziel hierbei ist, zu kurze oder zu lange Miktionsintervalle so zu verändern, daß es zu keinem Urinverlust kommt. Ein Miktionsintervall kann verlängert werden, indem der Beckenboden bei Harndrang so lange angespannt wird, bis dieser wieder verschwunden ist. Während der Anspannung wird über afferente Impulse des N. pudendus reflektorisch der N. pelvicus gehemmt und damit eine Hemmung der Detrusorkontraktion induziert. Bei zu langen Miktionsintervallen ist es sinnvoll, die Blase regelmäßig nach der Uhr, zum Beispiel alle drei Stunden, zu entleeren.
  • Toilettentraining Bei Patienten, die zu einer aktiven Mitarbeit nicht oder nicht mehr fähig sind, kann durch regelmäßige Blasenentleerung das Auftreten eines starken Harndranges verhindert und so Kontinenz erreicht werden. Vor allem bei betagten Patienten eignet sich dieses Training in Verbindung mit einer anticholinergen Therapie.
  • Medikamentöse Therapie Anticholinergika sind Muskarinrezeptor-Antagonisten, die eine vorschnelle Detrusorkontraktion verhindern und damit die Blasenkapazität erhöhen und die Miktionsintervalle verlängern. Ihre Wirkung ist in vielen klinischen Studien belegt und hat sich in der Praxis bewährt. Zu den Anticholinergika zählen tertiäre Amine wie Oxybutynin, Propiverin, Tolterodin, Darifenacin, Solifenacin sowie das quartäre Amin Trospiumchlorid. Oxybutynin steht außer in Tabletten-Form (etwa Dridase®) seit kurzem auch als Retard-Präparat (Lyrinel uno™) und als transdermales Pflaster (Kentera™) zur Verfügung. Das Pflaster wird zweimal die Woche auf Hüfte, Gesäß oder Bauch geklebt und gibt täglich 3,9 mg des Wirkstoffs über vier Tage ab. Die Retardtabletten werden einmal täglich unzerkaut eingenommen. Beide Galeniken sorgen für gleichmäßige Plasmakonzentrationen über 24 Stunden. Die tägliche Miktionsfrequenz und die Inkontinenzepisoden lassen sich auch gut mit Propiverin (Mictonorm®, Mictonetten®) mildern, so das Ergebnis einer Placebo-kontrollierten Doppelblindstudie. Als weitere Therapieoption steht Tolterodin (Detrusitol®) zur Verfügung, das es inzwischen auch als Retard-Formulierung gibt. In einer Studie besserte sich nicht nur die Inkontinenz, sondern auch die Drangsymptomatik bei 52 Prozent der Patienten. Seit vergangenem Jahr sind auch Darifenacin (Emselex®) und Solifenacin (Vesikur®) neue Behandlungsmöglichkeiten für Patienten mit Dranginkontinenz. Die beiden Anticholinergika binden selektiv an den Muskarin-M3-Rezeptor. Dadurch wird die Kontraktion der Harnblasenmuskulatur gehemmt. Die glatte Muskulatur entspannt sich, wodurch die Blase vermehrt Harn aufnehmen kann. Als quartäre Aminverbindung steht Trospiumchlorid (etwa Spasmex®) zur Verfügung. Es wird renal eliminiert und ist nicht liquorgängig, wodurch es zu keinen zentralnervösen Effekten kommt. Unerwünschte Wirkungen der Anticholinergika sind: Obstipation, Mundtrockenheit, kognitive Störungen und, seltener, Tachykardien und Akkomodationsstörungen. Desmopressin. Off-label kann Desmopressin (etwa Minirin®) bei Nykturie auch bei Erwachsenen eingesetzt werden. Vorsicht ist geboten bei Herzinsuffizienz, da es durch vermehrte Wassereinlagerung zu einem Hirnödem kommen kann.
  • EMDA-Therapie (Elec. Mot. Drug Admin., elektrisch gesteuerte Medikamentenverabreichung). Durch die Kombination von Elektrophorese durch Aufbau eines elektrischen Feldes und durch Iontophorese können intravesikal instillierte Medikamente in tiefere Gewebeschichten diffundieren und ein chronisches Harndrangsyndrom bessern. Bei den Medikamenten handelt es sich um ein Gemisch aus Adrenalin, Cortison und Lidocain. Die Wirkung - Senkung der Miktionsfrequenz, ggf. Schmerzreduktion - hält zwischen sechs Wochen und drei bis vier Monaten an, in Ausnahmefällen bis zu einem Jahr.
  • Elektrostimulation (ES) Durch Stimulation der afferenten Bahnen des N. pudendus wird der Detrusor gehemmt.
  • Botulinumtoxin-Therapie Die Injektion von Botulinumtoxin in den Detrusor stellt bei Versagen der oben genannten konservativen Therapie eine effektive, wenn auch invasivere Alternative zur Ruhigstellung eines hyperaktiven Detrusors dar. Diese Therapieform wird zur Zeit in Deutschland noch off-label angewandt. Da es, wenn auch selten, zu einer kompletten Lähmung des Blasenmuskels kommen kann, muß der Patient bei sich selbst einen Katheter legen und somit die Blase entleeren können. Die Wirkung der Therapie hält zwischen drei und neun Monaten an und kann dann wiederholt werden.
  • Operative Verfahren Abgesehen von den medikamentösen Therapieoptionen stehen bei Harninkontinenz mehrere operative Verfahren zur Verfügung, die individuell gewählt werden müssen. FAZITEin aktives Beckenbodentraining ist für jüngere Frauen als Prophylaxe hervorragend geeignet, damit sich eine Beckenbodenschwäche erst gar nicht zu einer schweren Harninkontinenz entwickelt. Als medikamentöse Therapie bei Belastungsinkontinenz kommen Hormone oder Duloxetin in Frage. Bei Dranginkontinenz sind Anticholinergika die Mittel der Wahl.Dr. Brigitte Willer,Schwarzwald-Baar Klinikum, Villingen-Schwenningen GmbH, Kontinenzzentrum Südwest, Postfach 21 03, 78011 Villingen-Schwenningen, Tel.: 07720 / 932-431, Fax: -498, E-Mail: brigitte.willer@sbk-vs.de

Formen der Harninkontinenz

Erfahrungsgemäß ist es nicht immer einfach, eine Belastungs- von einer Dranginkontinenz zu unterscheiden. Daher ist es sinnvoll, eine genaue Anamnese zu erheben, damit geklärt werden kann, unter welchen Umständen ein Urinverlust auftritt.

  • Belastungsinkontinenz Sie tritt bei körperlicher Anstrengung wie Husten, Niesen, Lachen, Laufen oder beim Aufstehen zum Beispiel aus einer liegenden Position heraus auf. Ätiologisch liegt eine Harnspeicherstörung als Folge einer Beckenbodenschwäche zugrunde. Risikofaktoren sind die Zahl vaginaler Geburten, mögliche Geburtskomplikationen, die Postmenopause, eine Hysterektomie, Übergewicht, Rauchen, chronischer Husten und schwere körperliche Arbeit.
  • Dranginkontinenz Sie bedeutet Urinverlust, der von einem nicht unterdrückbaren Harndrang begleitet wird oder dem ein nicht unterdrückbarer Harndrang vorausgeht. Man kann unterscheiden zwischen einer primären Form mit unbekannter Ätiologie und einer sekundären Form, bei der die Ätiologie bekannt ist. Diese Unterscheidung ist vor allem für die Therapie wichtig: Bei der primären Form kann nur symptomatisch behandelt werden, bei der sekundären Form ist eine kausale Therapie möglich.

    Typische Ursachen für die sekundäre Drangsymptomatik oder -inkontinenz sind der symptomatische Harnwegsinfekt, ein postmenopausal bedingter Östrogenmangel, die Radio-Zystitis, das Carcinoma in situ der Harnblase und die interstitielle Zystitis. Beide Inkontinenzformen können gemischt auftreten, was die Therapie oft erschwert.

  • Inkontinenz bei chronischer Retention Diese Inkontinenzform, die früher als Überlaufinkontinenz bezeichnet wurde, kommt sehr viel seltener vor. Bei Frauen beträgt die Häufigkeit 0,5 Prozent. Sie tritt auf, wenn der Blaseninnendruck bei sehr voller Blase den Harnröhrenverschlußdruck übersteigt. Ursache ist oft ein subvesikales Hindernis, durch das die Blase nicht mehr vollständig entleert wird und wodurch sich hohe Restharnmengen ansammeln können. Bei Männern ist dies zum Beispiel ein Prostataadenom oder eine Harnröhrenstriktur, bei Frauen kann eine Harnröhrenstenose vorliegen. Als weitere Ursache ist bei Frauen auch ein sogenanntes Lazy-bladder-syndrom denkbar, bei dem es durch zu seltene Miktion über lange Zeit hinweg zu einer langsamen Überdehnung der Blase mit Detrusorhypoaktivität und zunehmender Restharnbildung kommt.
  • Extraurethrale Inkontinenz Diese Form ist definiert als unwillkürlicher Urinverlust unter Umgehung der Harnröhre. Ein ständiger Urinverlust tagsüber und nachts, ohne daß noch eine normale Miktion zustande kommt, kann auf eine solche Störung hinweisen. Bei Mädchen ist oft ein ektop in die Vagina mündender Harnleiter die Ursache, bei erwachsenen Frauen kann eine Blasen-Scheiden- oder Harnleiter-Scheiden-Fistel zum Beispiel nach einer Hysterektomie oder nach einer Radiatio vorliegen. Beides muß operiert werden. (Willer)
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