Schmerzexperte

Cannabis – keine Empfehlung bei Fibromyalgiesyndrom?

Die Datenlage lässt es nicht zu, einen kategorischen Imperativ gegen den Einsatz von Cannabinoiden bei Fibromyalgiesyndrom zu formulieren. Davon Betroffene, die sich um die Kostenübernahme einer Verordnung bemühen, sind benachteiligt.

Von von Oliver Emrich Veröffentlicht:
Was tun bei Fibromyalgie? Hilft Cannabis?

Was tun bei Fibromyalgie? Hilft Cannabis?

© Zerbor / stock.adobe.com

Der medizinische Dienst der Krankenkassen, zum Beispiel in Rheinland Pfalz, lehnt Anträge zur Kostenübernahme von Cannabisverordnungen im Rahmen der Behandlung von Schmerzen bei Fibromyalgiesyndrom (FMS) überwiegend ab.

Er nimmt dabei Bezug auf die Fibromyalgie-Leitlinie der AWMF, wonach Cannabinoide zum Einsatz bei Fibromyalgie nicht empfohlen werden.

O-Ton der AWMF-Leitlinie: "Evidenzbasierte Empfehlung: Cannabinoide sollten nicht empfohlen werden. EL3a, negative Empfehlung. Starker Konsens."

Wie wird diese Aussage in der AWMF-Leitlinie begründet?

Ein Blick in die Primärliteratur lohnt sich

Die Leitlinie-Autoren belegen ihre Aussage mit zwei Studien bzw. Metaanalysen sowie mit der eigenen alten Leitlinienversion von 2012. Alle drei Literaturbezüge hätten negative Schlussfolgerungen bezüglich Wirksamkeit und Verträglichkeit von Nabilon im Vergleich zu Placebo oder Amitriptylin ergeben.

Bei der Durchsicht der zitierten Übersichtsarbeiten und Metaanalysen zum Beweis der Nichtwirkung von Cannabinoiden lohnt sich aber der Blick in die Primärliteratur: 2008 erschien nämlich eine Studie von Skrabek et.al., die das vollsynthetische THC Analogon Nabilon doppelblind, placebokontrolliert und randomisiert bei 40 Patienten mit Fibromyalgie über vier Wochen als wirksam belegte.

Die Autoren der einen in der AWMF-Leitlinie berücksichtigten Metaanalyse kommen in Bezug auf diese Studie aber zu einem ganz anderen Schluss, sie bewerten die Ergebnisse völlig entgegengesetzt.

Anders gerechnet? Andere Evidenz?

Verwirrend ist: Die Co-Autorin dieser Metaanalyse, in der die Ergebnisse der Nabilon-Studie negativ bewertet wurden, legte zusammen mit Kollegen vor einiger Zeit selbst eine RCT mit Nabilon bei FMS-Patienten vor.

Darin wurde die Wirkung von Nabilon auf die Schlafqualität von 29 Patienten im Vergleich mit Amitryptilin geprüft. Gestörter Schlaf ist ja eines der Kardinalsymptome von FMS. Ergebnis: Nabilon war dem Amitrytilin bezüglich der Verbesserung der Schlafqualität überlegen.

Kanadische Leitlinie ist offener in der Aussage

Die kanadische Leitlinie zum Fibromyalgiesyndrom von 2012 ist, obschon sie sich auf die gleiche Datenlage beruft, deutlich offener in der Aussage: "Ein Versuch mit einem verschriebenen Cannabinoid bei einem Patienten mit Fibromyalgiesyndrom kann überlegt werden, insbesondere wenn ein wichtiger Teil des Syndromkomplexes eine Schlafstörung ist."

Von Cannabinoiden wird nicht kategorisch abgeraten, obwohl die Belegdichte an RCTs dünn ist, denn es gebe "Hinweise" auf Schmerzerleichterung.

Die kanadische Leitlinie sagt: "Der klinische Nutzen der Cannabinoidanwendung im Hinblick auf Schmerzerleichterung bleibt kontrovers" ... aber: "in einem kürzlich erschienen systematischen Review von 18 RCTs mit chronischem nicht krebsbedingtem Schmerz, von denen zwei Fibromyalgie betrachtet haben, waren Cannabinoide bezüglich des analgetischen Effekts Placebo überlegen und einige zeigten eine Verbesserung des Schlafes."

Dies sagt schlussendlich auch die DGS Praxisleitlinie "Das Fibromyalgiesyndrom" von 2017: "Ein Behandlungsversuch mit verschriebenen Cannabinoiden kann unternommen werden, wenn andere Therapiestrategien nicht ausreichend wirksam waren, oder zusätzlich zu diesen, vor allem, wenn schwerwiegende Schlafstörungen bestehen."

Und in der Praxisleitlinie 2018 "Cannabinoide in der Schmerzmedizin" werden entsprechende Zubereitungen als Therapieversuch empfohlen.

FMS und Neuropathie: Fast identische Strategien

In vielen Bereichen bestehen phänotypische Überlappungen der Schmerzen bei Fibromyalgiesyndrom und Neuropathien, aber auch typische Unterschiede. Hochinteressant ist, dass die medikamentösen Strategien für die Behandlung von FMS und für neuropathische Schmerzen aber fast identisch sind (TCAs, atypische Antiepileptika, SSRI etc.).

Für neuropathische Schmerzen indes wird Cannabis in allen Leitlinien und Metaanalysen, zuletzt auch in der CaPRis Studie (Cannabis Potential und Risiken), die im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit aufgelegt worden ist, als Therapieoption empfohlen. Gerade auch deshalb lohnt sich auch ein Versuch bei therapieresistenten und schweren Fällen von FMS.

Zusammenfassend ist zu bemerken, dass die Datenlage zu vielen möglichen Indikationen, unter anderem für die Therapie bei Fibromyalgiesyndrom, wie sie vollumfänglich in der Praxisleitline "Cannabinoide in der Schmerzmedizin" aufgeführt sind, weiterhin als nicht ausreichend gelten muss.

"Harte" Evidenzen und Nachweise sind auch deswegen bislang nicht ausreichend, weil nur in wenigen Ländern, wie Kanada, und dort auch erst seit wenigen Jahren, medizinisches Cannabis verkehrsfähig ist und zu einer etablierten Behandlungsoption geworden ist.

"Schwache Evidenz" ist nicht gleich "gar keine Evidenz"

Studien und Zulassungsverfahren von Medikamenten brauchen Zeit zum Teil über zehn Jahre. Trotzdem gibt es viele Hinweise einer positiven Cannabiswirkung für (neuropathischen) Schmerz, Schlaf und allgemeine Verbesserung der Lebensqualität.

Die AWMF-Leitlinie ist diesbezüglich für den allgemeinen Praxisbetrieb allzu kategorisch negativ, wenn nach ihrer Systematik eindeutige Wirkbelege fehlen.

Zum Teil wurden Studienergebnisse anderer Studien umbewertet. Eine "schwache Evidenz" ist aber nicht gleich "gar keine Evidenz" und schon gar nicht eine "negative Evidenz" und dann noch im "starken Konsens".

Niemand ist berechtigt, in der derzeitigen Situation einen kategorischen Imperativ gegen den Einsatz von Cannabinoiden bei FMS zu formulieren, was dann noch der MdK dazu benutzt, eine Ablehnung der Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenkasse zu empfehlen! So jedenfalls geht Wissenschaft und evidence based medicine (EBM) nicht! In dubio pro reo, neque contra reum.

SanRat Dr. med. Oliver M.D. Emrich, Regionales Schmerz- und Palliativzentrum DGS Ludwigshafen (Literatur beim Verfasser)

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