Elf-Jahres-Daten bestätigen

Frühe MS-Therapie lohnt sich

Wird bei einem klinisch isolierten Syndrom sofort gegen eine MS behandelt, ergeben sich nach elf Jahren noch Vorteile im Vergleich zu einem verzögerten Therapiebeginn: Die MS-Rate bleibt geringer und Schübe treten seltener auf.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Immunmodulatoren reduzieren MS-Schäden (rot) und verzögern die Progression.

Immunmodulatoren reduzieren MS-Schäden (rot) und verzögern die Progression.

© Dr. Matthias Eberhardt / Arteria Photography

BASEL. Ob eine MS-Therapie nicht nur Schüben vorbeugt, sondern auch die Krankheitsprogression langfristig bremst, ist noch immer Gegenstand von Diskussionen. Zwar spricht vieles dafür, dass Immunmodulatoren auch den Schaden im Gehirn reduzieren und den Übergang in eine sekundär progrediente MS verzögern, indem sie die Krankheitsaktivität zurückdrängen. Allerdings ließ sich das in Therapiestudien bislang nicht eindeutig belegen, da die meisten nicht länger als zwei Jahre dauern. In offenen Verlängerungsstudien scheidet ein Großteil der Patienten aus und zumeist ist unklar, ob die wenigen verbliebenen dann noch repräsentativ für die jeweilige Studiengruppe sind.

Eine jetzt veröffentlichte Auswertung der BENEFIT-Studie (Betaferon/Betaseron in Newly Emerging MS for Initial Treatment) mit Interferon beta-1b ist insofern bemerkenswert, als nach elf Jahren immerhin noch rund 60 Prozent der einstigen Teilnehmer befragt und untersucht werden konnten (Neurology 2016; 87(10): 978-987). Dabei deutet sich an, dass eine frühe Behandlung nach über einer Dekade noch signifikante Vorteile hat.

Konversionsrate geringer

Für BENEFIT wurden in den Jahren 2002 und 2003 insgesamt 468 Patienten mit einem klinisch isolierten Syndrom (CIS) aufgenommen und für zwei Jahre entweder mit Interferon beta-1b (292 Patienten) oder Placebo (176 Patienten) behandelt. Nach Konversion zu einer MS oder spätestens nach zwei Jahren wurde allen Patienten eine Beta-Interferon-Therapie angeboten (250 µg s.c. alle zwei Tage). Die Patienten konnten auch ein anderes Präparat oder keine Therapie wählen. In den ersten beiden Jahren entwickelten nach den damals geltenden Diagnosekriterien 45 Prozent unter Placebo und 28 Prozent unter Beta-Interferon eine klinisch manifeste MS, gemäß den modernen McDonald-Kriterien waren es 85 versus 69 Prozent. Nach acht Jahren war die Zeit bis zur MS-Konversion in der Gruppe mit früher Therapie signifikant um 3,7 Jahre verlängert und das Konversionsrisiko um 32 Prozent gesenkt. Die jährliche Schubrate war mit 0,2 versus 0,26 ebenfalls geringer. Es deutete sich bei einigen Parametern eine Parallelverschiebung an: Der Vorteil einer frühen Therapie ließ sich bei einem späteren Behandlungsbeginn nicht mehr aufholen.

Dafür spricht nun auch die Auswertung der Elf-Jahres-Daten: Die MS-Konversionsrate war bei den Patienten mit frühem Therapiestart noch immer um 33 Prozent geringer als bei dem im Schnitt 1,5 Jahre späteren Behandlungsbeginn, berichten Wissenschaftler um Professor Ludwig Kappos vom Universitätsspital Basel. Eine klinisch bestätigte MS nach den ursprünglich verwendeten Kriterien hatten nun 67 versus 75 Prozent. Die Schubrate war über den gesamten Elf-Jahresverlauf bei frühem Therapiebeginn um rund ein Fünftel niedriger (0,21 versus 0,26). Die deutlichsten Unterschiede ergaben sich hier zwar im ersten Jahr, doch auch in den Jahren danach lag die Rate in der Gruppe mit früher Therapie tendenziell niedriger.

Der EDSS-Wert hatte sich dagegen in beiden Gruppen nur wenig verändert und betrug im Median 2,0 und im Mittel 2,1 Punkte. Hier gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen – der Wert hatte seit Aufnahme in die Studie im Median jeweils um 0,5 Punkte zugenommen.

73 Prozent weiterhin berufstätig

Nur 25 Patienten (5,9 Prozent) entwickelten eine sekundär progrediente MS. Der Anteil war in der Gruppe mit früher Therapie geringer (4,5 versus 8,3 Prozent), allerdings ergab sich keine signifikante Differenz. Hier muss wohl noch etwas gewartet werden, um statistisch belastbare Zahlen zu erhalten.

Bei einem von mehreren Kognitionstests, dem Paced Auditory Serial Addition Task (PASAT-3), schnitten die Teilnehmer mit frühem Therapiestart nach elf Jahren signifikant besser ab als die mit späterem Beginn, nicht jedoch bei einer anderen Untersuchung zur Verarbeitungsgeschwindigkeit, dem Symbol Digit Modalities Test (SDMT). Auch beim Ausmaß der Hirnatrophie und der Läsionslast sowie bei Fatigue- und Depressionsscores hatten die Patienten mit späterem Behandlungsbeginn keine Nachteile. Im Wesentlichen machte sich der frühe Therapiebeginn also in einer geringeren Schub- und MS-Konversionsrate bemerkbar.

Auffallend ist die insgesamt hohe Rate von Patienten im Berufsleben: Sie ist von 81 Prozent zu Studienbeginn lediglich auf 73 Prozent nach elf Jahren gesunken – hauptsächlich, weil dann 9 Prozent der Patienten in Rente waren. Nur 1 Prozent der Teilnehmer lebte zum Ende der Analyse in einer Pflegeeinrichtung.

Der milde Verlauf der MS bei allen Patienten – ob mit frühem oder verzögertem Therapiebeginn –überrascht. In natürlichen Verlaufsstudien hatte nach zehn Jahren oft die Hälfte der Patienten einen EDSS-Wert von 3 und mehr Punkten, auch war die Hälfte dann nicht mehr in Arbeit, berichten die Baseler MS-Experten. Gut möglich ist allerdings, dass gerade diejenigen Patienten mit einem ungünstigen MS-Verlauf wenig Motivation aufbringen, weiterhin an der Studie teilzunehmen. Dies würde die MS-Therapie besser erscheinen lassen, als sie tatsächlich ist.

Die EDSS-Skala

Defizite bei MS werden mit der Expanded Disability Status Scale neurologisch bewertet.

Die Werte reichen von 0 (normal) bis 10 (Tod durch MS).

Gehfähige Patienten werden im Bereich 1 bis 4,5 bewertet.

Rollstuhlbedürftig sind Patienten bei 7; das heißt, sie können selbst mithilfe Anderer nicht mehr als 5 m gehen.

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