Koma-Saufen

Immer mehr sturzbetrunkene Mädchen

Immer mehr Jugendliche kommen nach Alkohol-Exzessen ins Krankenhaus - besonders stark ist der Anstieg bei Mädchen. Ist der seit mehr als einem Jahrzehnt andauernde Trend nicht zu stoppen?

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WIESBADEN. Immer mehr Mädchen greifen zur Flasche und trinken sich ins Koma. Für Rainer Becker von der Deutschen Kinderhilfe ist das die traurige Seite einer allgemeinen Entwicklung. "Junge Frauen übernehmen mehr selbstschädigende Verhaltensweisen von Männern. Sie rauchen auch mehr und fahren aggressiver Auto als früher."

Der Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), Raphael Gaßmann, ist überzeugt: "Koma-Trinken ist ein gesamtgesellschaftlicher Trend." Dieser verstärke sich seit Beginn der Erhebungen 2000 stetig, unabhängig von Geschlecht, demografischem Hintergrund und Alter. "Über die Älteren wird aber nicht geredet."

Die Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Elisabeth Pott, sieht das ähnlich: "Alkohol ist in der Bevölkerung das am weitesten verbreitete Suchtmittel und die Risiken, die von einem unkritischen Alkoholkonsum ausgehen, werden in unserer Gesellschaft noch immer deutlich unterschätzt."

Sie warnt: Dies beeinflusse das Trinkverhalten von Kindern und Jugendlichen.

Von 100.000 Kindern und Jugendlichen (zehn bis 19 Jahre) kamen 2012 laut Statistischem Bundesamt 333 nach akutem Alkoholmissbrauch ins Krankenhaus - 2,4 Prozent mehr als im Vorjahr. Zwar besaufen sich nach wie vor vor allem Jungen und junge Männer bis zur Bewusstlosigkeit (394 je 100.000).

Bei den Mädchen und jungen Frauen nahm die Zahl im Jahresvergleich aber viel stärker zu: Um 5,0 Prozent auf 269 (je 100.000). Bei den Jungen lag der Anstieg bei 0,8 Prozent.

Steuer auf Alkohol gefordert

Gaßmann und Pott mahnen zur Differenzierung: Die Zahl der Koma-Säufer bei den Zehn- bis 15-Jährigen sei im Jahresvergleich gesunken - um 4,2 Prozent auf insgesamt 3999. Dagegen seien 22.674 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15 bis 19 Jahren im Vollrausch in eine Klinik gebracht worden, ein Plus von 2,3 Prozent.

Um dem seit Jahren beklagten und sich dennoch verschärfenden Problem des Koma-Saufens junger Menschen Herr zu werden, sei eine kleine Steuer auf Alkohol notwendig, meint Gaßmann.

"Ein Vollrausch kostet weniger als eine Schachtel Zigaretten. Das ist viel zu billig - auch im internationalen Vergleich." Unvorstellbar sei in anderen Ländern auch, dass in Deutschland rund um die Uhr Alkohol gekauft werden könne.

Dazu komme die Werbung, die an jeder zweiten Ecke suggeriere: "Trink das, dann bist Du gut drauf und sexy." Die Werbung wende sich zunehmend an junge Frauen, weil junge Männer als Konsumentengruppe schon erschlossen seien.

Der Jugendschutz müsse auch verbessert werden. Testkäufe in Niedersachsen belegten, dass jeder Zweite dabei durchfalle, sagt Gaßmann. "Wer zwei-, dreimal gegen das Verbot verstößt, sollte keinen Alkohol mehr verkaufen dürfen." Becker von der Kinderhilfe verlangt, konsequenter Bußgelder zu verhängen.

Falsche Vorbilder, Verfügbarkeit, jugendliche Risikobereitschaft - was noch bringt Kinder und Jugendliche dazu, Alkohol bis zur Lebensgefahr in sich hinein zu schütten? Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbunds, Heinz Hilgers, verlangt, dass der neue Bundesgesundheitsminister dazu einen Forschungsauftrag auf den Weg bringen müsse.

Steigenden Leistungsdruck mit Alkohol mildern

Becker von der Deutschen Kinderhilfe benennt als eine der Ursachen für die Saufgelage: "Unsere Kinder und Jugendlichen empfinden einen höheren Leistungsdruck und - manchmal berechtigt und manchmal unberechtigt - eine höhere Perspektivlosigkeit."

Er plädiert für eine engere Zusammenarbeit von Polizei, Krankenhäusern und Sozial- und Gesundheitsämtern, um sozialen und Sucht-Problemen junger Koma-Säufer möglichst früh entgegenwirken zu können.

Die Einsparungen bei der Polizei hätten auch dazu geführt, dass ein Streifenwagen eher mal vorbei fahre als anhalte, wenn Jugendliche auf einer Bank Hochprozentiges kippten.

Nach Hilgers Ansicht sind wahrscheinlich präventive Angebote wichtiger und sinnvoller als restriktiver Jugendschutz.

Die Kampagne "Hackedicht" von Kinderschutzbund und Knappschaft an deutschen Schulen beispielsweise sei - wissenschaftlich attestiert - zwar sehr erfolgreich, aber eben nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Um flächendeckenden Erfolg zu haben, müsse der Staat viel mehr solche Programme verantworten und auch bezahlen. (dpa)

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