Patienten über 90 Jahre

Keine Angst vor der Antikoagulation

Darf man über 90-Jährigen noch Vitamin-K-Antagonisten verschreiben? Zumindest bei alten Damen sehen niederländische Forscher darin kein besonderes Problem.

Von Dr. Elke Oberhofer Veröffentlicht:
Blutproben für Gerinnungstests. Antikoagulantien bergen oft ein Blutungsrisiko – auch bei alten Menschen?

Blutproben für Gerinnungstests. Antikoagulantien bergen oft ein Blutungsrisiko – auch bei alten Menschen?

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GRONINGEN. Bei der Indikationsstellung zur Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) sind Ärzte oft sehr zurückhaltend, wenn es um wirklich alte Patienten geht. Traut man den Ergebnissen einer Kohortenstudie aus den Niederlanden, ist die Sorge jedoch nicht wirklich berechtigt.

Die Empfehlungen, die für Patienten über 80 bereits bestehen, können, so die Forscher um Hilde A. Kooistra von der Universität Groningen, einigermaßen sicher auf eine noch ältere – vor allem weibliche – Klientel ausgeweitet werden.

In der RIETE-Studie hatte man zeigen können, dass bei über 80-jährigen Patienten das Risiko, aufgrund einer wiederkehrenden Thromboembolie zu sterben, größer ist als das Risiko einer tödlichen Blutung unter Antikoagulation.

An der Kohortenstudie hatten 3313 über 70-jährige Patienten (1394 Männer und 1919 Frauen) teilgenommen, die zwischen Januar 2009 und Juni 2012 mit einem VKA behandelt wurden (JAMA Intern Med. 2016; 176: 1176-1183). Die Indikation bestand in der Mehrzahl der Fälle in Vorhofflimmern, gefolgt von venösen Thromboembolien.

Kooistra und Kollegen bildeten zwei Kohorten: Patienten, die im Studienzeitraum neu auf einen VKA eingestellt worden waren, und solche, die das Antikoagulans bereits längerfristig einnahmen.

Innerhalb dieser Kohorten wurden drei im Hinblick auf den Therapiebeginn vergleichbare Altersgruppen gebildet: 70- bis 79-Jährige, 80- bis 89-Jährige und eine Gruppe im Alter von = 90.

Risikoerhöhung knapp signifikant

In insgesamt 6419 Beobachtungsjahren kam es zu 1050 klinisch relevanten Blutungsereignissen. Die Blutungsraten, jeweils bezogen auf 100 Patientenjahre, betrugen für die drei Altersgruppen 14,8, 16,7 und 18,1.

Damit zeigte die älteste Gruppe gegenüber der jüngsten eine nur knapp signifikante Risikoerhöhung von 26 Prozent; bei den 80- bis 89-Jährigen betrug diese 7 Prozent. Die Signifikanz bei den über 90-Jährigen verlor sich, nachdem man den Einfluss der INR-Variabilität herausgerechnet hatte.

In den Niederlanden liegt der INR-Zielbereich bei Patienten mit Vorhofflimmern oder tiefer Venenthrombose zwischen 2,0 und 3,5. In der Studie betrug der Anteil, bei dem dies gelang, bei den über 90-Jährigen 66,4 Prozent, bei den 70- bis 79-Jährigen dagegen 72,5 Prozent. Dabei hielten sich die Ausreißer nach oben beziehungsweise nach unten in etwa die Waage (17,4 beziehungsweise 16,2 Prozent).

Männer haben höheres Blutungsrisiko

Auffallend war, dass das Blutungsrisiko bei den Männern mit zunehmendem Alter stärker anstieg als bei den Frauen. Auch insgesamt neigten die Männer mehr zu Blutungen: 24,4 Prozent (gegenüber 19,4 Prozent) hatten mindestens ein klinisch relevantes Ereignis.

Die Blutungslokalisation war in allen Altersgruppen etwa gleich: Die Betroffenen bluteten vor allem an der Haut (31,1 Prozent) und aus der Nase (20,6 Prozent), gefolgt von Urogenital- oder Gastrointestinaltrakt (17,6 beziehungsweise 16,4 Prozent).

Große Blutungen traten mit einer Häufigkeit von 0,9, 1,0 beziehungsweise 1,1 pro 100 Patientenjahre auf. Auch bei den fatalen Blutungsereignissen unterschieden sich die Altersgruppen kaum, wohl aber in der Fortsetzung der Antikoagulation nach dem Ereignis: Bei den 80- bis 89-Jährigen war die Wahrscheinlichkeit, dass das Medikament abgesetzt wurde, gegenüber der jüngsten Gruppe verdoppelt, bei den über 90-Jährigen verdreifacht.

Nutzen-Risiko-Abwägung heikel

Bei Senioren besteht ein grundsätzliches Dilemma darin, dass sie einerseits stärker zu Blutungen, andererseits aber auch stärker zu Thrombosen neigen als jüngere Patienten. Daher ist die Abwägung zwischen Nutzen und Risiko einer Antikoagulation hier besonders heikel.

Kooistra und Kollegen fanden im Vergleich zu den 70- bis 79-Jährigen ein mehr als doppelt so hohes Thromboserisiko in der Gruppe 90+ (HR 2,14); die Thromboseraten für die drei Altersgruppen lagen bei 0,8, 1,5 und 1,8 pro 100 Patientenjahre.

Dabei war die Differenz in der Gruppe, die neu angefangen hatte zu antikoagulieren, besonders deutlich: Hier waren die ältesten Studienteilnehmer gegenüber den jüngsten mehr als fünfmal so gefährdet, eine Thrombose zu erleiden.

Nach Kooistra und Kollegen war ein Teil des erhöhten Blutungsrisikos auf die schlechtere Kontrolle des VKA (gemessen am Erreichen des INR-Zielwerts) zurückzuführen. Für das Thromboserisiko galt jedoch kein entsprechender Zusammenhang: Es blieb auch in der um die VKA-Kontrolle bereinigten Analyse um 85 Prozent erhöht.

Das Resümee der Autoren: Ab einem Alter von etwa 80 Jahren scheint sich das Blutungsrisiko unter VKA zu stabilisieren. Die Ursache sei möglicherweise eine natürliche Selektion, die in einem relativ geringen Anteil gebrechlicher Frauen münde.

Studienergebnisse

Patienten über 90 hatten gegenüber Patienten im Alter von 70 bis 79 eine knapp signifikante Erhöhung des Blutungsrisikos unter VKA von 26 Prozent, bei den 80- bis 89-Jährigen betrug diese 7 Prozent.

Im Vergleich zu den 70- bis 79-Jährigen hatten Patienten im Alter von über 90 Jahren ein mehr als doppelt so hohes Thromboserisiko.

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