US-Psychologe Kirsch im Interview

Kontroverse zum Nutzen von Antidepressiva

Seine Metaanalysen sorgten für viel Aufsehen, die Wirksamkeit von Antidepressiva nennt er einen Mythos. Die Thesen des in New York geborenen Psychologen Professor Irving Kirsch fanden in einer Presidential Debate beim DGPPN-Kongress in Berlin erwartungsgemäß nicht nur Zuspruch. Im Interview mit der "Ärzte Zeitung" fand Kirsch kritische Worte zu den Methoden, mit denen der Nutzen von Antidepressiva bewertet wird.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:

Professor Irving Kirsch

Kontroverse zum Nutzen von Antidepressiva

© Thomas Müller

Irving Kirsch ist Professor für Psychologie an der Universität in Plymouth, Großbritannien, emeritierter Professor für Psychologie an der Universität in Hull, ebenfalls Großbritannien, sowie der Universität von Connecticut in den USA. Er ist zudem Dozent für Medizin an der Harvard Medical School in Boston und dort Direktor des "Program in Placebo Studies".

Der in New York geborene Psychologe bekam viel Aufmerksamkeit für seine Metaanalysen, nach denen die Wirksamkeit von Antidepressiva zum größten Teil auf dem Placeboeffekt beruht, sowie für sein Buch "The Emperor's New Drugs: Exploding the Antidepressant Myth".

Während einer Presidential Debate mit Professor Irving Kirsch beim DGPPN-Kongress in Berlin sprach der Pharmakologe Professor Elias Erikkson aus Göteborg von einer "Erfolgsstory" der Antidepressiva.

So sei die antidepressive Wirkung von Imipramin unbeabsichtigt entdeckt worden und lasse sich daher nicht bloß auf die Erwartungshaltung der Patienten zurückführen. Erikkson sieht auch in der unterschiedlich starken Wirksamkeit von Trizyklika, SSRI und SNRI einen klaren Hinweis auf einen Nutzen.

Das konterte Kirsch mit einer Analyse, nach der Antidepressiva am besten in direkten Vergleichsstudien wirken: Hier wird ein Rückgang um durchschnittlich 15 Punkte im Hamilton-Score beobachtet, in Placebo-kontrollierten Studien jedoch nur noch von elf Punkten in der Gruppe mit dem Antidepressivum.

Die Erklärung des Psychologen: Der Placeboeffekt ist am größten, wenn alle Teilnehmer wissen, dass sie ein Antidepressivum bekommen, und schon etwas weniger ausgeprägt, wenn sie damit rechnen müssen, dass sie sich im Placeboarm befinden.

Unter Alltagsbedingungen, wenn also nicht ein Großteil der Patienten im Voraus ausgeschlossen wird, sei die Wirkung sogar noch viel schlechter. So sei in der Studie STAR*D mit Antidepressiva nur noch ein Rückgang von etwa sechs Punkten beobachtet worden, sagte Kirsch.

Kirsch hält nicht viel von Antidepressiva

Dagegen verwies Professor Hans-Jürgen Möller aus München auf eine deutsche Praxisstudie mit Escitalopram, in deren Verlauf 70 Prozent der Patienten auf die Therapie ansprachen und 57 Prozent in Remission gelangten.

Die Mehrheit der Patienten hatte zu Beginn eine schwere Depression. Dies zeige, so Möller, dass Antidepressiva durchaus unter Alltagsbedingungen eine gute Wirkung entfalten.

Der Psychiater kritisierte auch das Konzept der Metaanalyse: Wenn alle möglichen unterschiedlichen Studien in einen Topf geworfen werden, dann erhält man vor allem viel Rauschen und sieht relevante Unterschiede oft nicht mehr."

Für den Psychiater sind die positiven Effekte in den Placebogruppen auch nicht nur durch die Erwartungshaltung der Patienten zu verstehen, sondern auch durch Ko-Therapien mit Anxiolytika, Hypnotika und begleitenden Psychotherapien, die ebenfalls zur Reduktion der Symptome und damit der Placebo-Verum-Differenz beitragen.

Wann würde bei der aktuellen Datenlage aber auch der Psychologe Kirsch die Verordnung eines Antidepressivums befürworten? Und wie steht er genau zu den Methoden, mit denen der Nutzen von Antidespressiva bewertet wird? Die "Ärzte Zeitung" fragte nach:

Ärzte Zeitung: Wann würden Sie ein Antidepressivum empfehlen?

Professor Irving Kirsch: Erst dann, wenn andere Methoden versagen. Denn bei leichter bis moderater Depression gibt es überhaupt keine Evidenz für einen klinischen Nutzen, selbst bei schwerer Depression profitieren nur Patienten mit hohem Hamilton-Depressions-Score, also mit 27 Punkten oder darüber. Ab hier macht sich im Vergleich zu Placebo ein Unterschied von mindestens drei Punkten bemerkbar, wie ihn das NICE als klinisch signifikant definiert.

Eine klinisch signifikante Wirksamkeit von Antidepressiva scheint es also nur bei schwer Depressiven zu geben, wenngleich auch hier der Unterschied zu Placebo immer noch relativ gering ist. Da es bei allen Schweregraden einer Depression weniger riskante Alternativen gibt, würde ich Antidepressiva als Reservetherapie zurückhalten.

Also stets eine Psychotherapie bei leichter bis moderater Depression?

Kirsch: Nicht nur bei leichter bis moderater Depression. Ich würde generell als erste Therapie etwas anderes als ein Antidepressivum bevorzugen. Denn die Evidenz, die wir bislang haben, zeigt, dass alle aktiven Behandlungen vergleichbar effektiv sind, auch bei schwerer Depression. Wenn nun alle Therapien etwa gleich wirksam sind, dann sollte man diejenige mit der besten Sicherheit wählen. Und hier stehen Antidepressiva an letzter Stelle.

Aber es gibt auch noch andere Alternativen als eine Psychotherapie, zum Beispiel körperliche Bewegung. Hier ist das Nebenwirkungsprofil geradezu fantastisch. Eigentlich müsste man Trainingsprogramme allein schon wegen all der gesundheitsfördernden Nebenwirkungen verschreiben.

Betrachtet man nicht nur die Werte auf der Hamilton-Depressions-Skala, sondern die Ansprechraten, ergibt sich da für Antidepressiva nicht ein günstigeres Bild?

Kirsch: Die Responderraten basieren letztlich auf dem HAMD-Score, sie dichotomisieren nur einen kontinuierlichen Score. Jeder Statistiker würde sagen, das ist schlechte Statistik: Sie legen jemanden, der nur zu 50 Prozent anspricht, mit jemandem zusammen, der 100-prozentig anspricht. Auf der anderen Seite kommt ein Patient mit 49-prozentiger Antwort in dieselbe Gruppe wie einer, der überhaupt nicht auf die Therapie reagiert. Dadurch wird ein Großteil der Daten nicht berücksichtigt.

Die Ansprechrate täuscht zudem größere Unterschiede vor, als tatsächlich auftreten: Jemand mit 50-prozentiger Symptomreduktion unterscheidet sich plötzlich von jemandem mit 49-prozentiger Reduktion. Viele, die als Responder klassifiziert werden, differieren nur um ein oder zwei Punkte von Non-Respondern. Statistiker sind der Auffassung, wenn man schon eine kontinuierliche Skala hat, sollte man keine dichotomen Ansprechraten verwenden, sondern auf das exakte Ausmaß der Veränderung achten.

Nun spricht nicht jeder auf ein Medikament gleich gut an. Beim einen wirkt es prima, bei anderen gar nicht. Das bildet sich im Mittelwert kaum ab. Gibt es hier keine besseren Methoden?

Kirsch: Bislang hat keiner eine bessere Methode gefunden als Veränderungen bei der Schwere der Erkrankung zu messen. Aber wenn es im Vergleich zu Placebo kaum Unterschiede gibt, wie es mit Antidepressiva bei leichter und moderater Depression der Fall ist, und trotzdem einige Patienten sehr gut davon profitieren, muss es natürlich auf der anderen Seite auch Patienten geben, denen die Therapie schadet.

Das komplette Interview lesen Sie exklusiv in unserer App-Ausgabe vom 13.12.2013.

Jetzt auch auf Android lesen ... Jetzt gleich lesen ...

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Gelistet als Best-Practice-Intervention

Psychische Gesundheit: OECD lobt deutsches Online-Programm iFightDepression

Eine gefährliche Kombination

Diabetes und Depressionen gehen oft Hand in Hand

Das könnte Sie auch interessieren
Was die MS-Behandlung auszeichnet

© Suphansa Subruayying | iStock

Lebensqualität

Was die MS-Behandlung auszeichnet

Anzeige | Merck Healthcare Germany GmbH
Unsichtbare MS-Symptome im Fokus

© AscentXmedia | iStock

Lebensqualität

Unsichtbare MS-Symptome im Fokus

Anzeige | Merck Healthcare Germany GmbH
Prognostizierbares Therapieansprechen?

© Stockbyte | gettyimages (Symbolbild mit Fotomodellen)

Antidepressiva

Prognostizierbares Therapieansprechen?

Anzeige | Bayer Vital GmbH
Depression und Schmerz gehen häufig Hand in Hand

© brizmaker | iStock (Symbolbild mit Fotomodell)

Depressionsscreening

Depression und Schmerz gehen häufig Hand in Hand

Anzeige | Bayer Vital GmbH
Kommentare
Sonderberichte zum Thema

ADHS im Erwachsenenalter

Wechseljahre und ADHS: Einfluss hormoneller Veränderungen auf Symptomatik und Diagnose

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: MEDICE Arzneimittel Pütter GmbH & Co. KG, Iserlohn
Neue Ansätze zur Behandlung seltener Krankheitsbilder

© Dr_Microbe / stock.adobe.com

Entwicklungen in der Therapie neuromuskulärer Erkrankungen

Neue Ansätze zur Behandlung seltener Krankheitsbilder

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Roche Pharma AG, Grenzach-Wyhlen
Abb. 1: a) Verlauf einer Gruppe unbehandelter Personen, b) 5-Jahres-Daten der SUNFISH-Studie Teil1, c) Teil2

© Springer Medizin Verlag GmbH, modifiziert nach [3]

Therapie der 5q-assoziierten SMA

Risdiplam-Filmtabletten: flexiblere Anwendung im Alltag

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Roche Pharma AG, Grenzach-Wyhlen
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Lungensurfactant

Warum Seufzen der Atmung gut tut

Lesetipps
Der Rücken eines Mannes mit Gürtelrose zeigt Vesikel.

© Chinamon / stock.adobe.com

Alter für Indikationsimpfung herabgesetzt

STIKO ändert Empfehlung zur Herpes zoster-Impfung

Mammografie-Screening bei einer Patientin

© pixelfit / Getty Images / iStock

Prävention

Mammografie-Screening: Das sind Hindernisse und Motivatoren