HINTERGRUND

Männer werden mindestens ebenso oft Opfer von Gewalt wie Frauen

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Opfer von Gewalt, so die vorherrschende Meinung, werden vor allem Frauen, Kinder und Alte. Über die Gewalterfahrungen von Männern gibt es zwar mehrere Studien, deren Ergebnisse werden jedoch kaum öffentlich diskutiert. Noch weniger bekannt ist die Tatsache, daß viele Männer Gewalt durch ihre Partnerinnen erleiden. Manche Forscher gehen sogar davon aus, daß sich die Gewalt zwischen den Geschlechtern in Partnerschaften die Waage hält.

"Männliche Opfer von Gewalt, Ausbeutung und Mißhandlung verschwinden hinter einer Schweigemauer", so Hans-Joachim Lenz, der selbst eine Studie über Gewalt gegen Männer vorgelegt hat ("Psychologie Heute" 7, 2004, 53). Meist schwiegen Betroffene aus Scham; jene, die über ihre Gewalterfahrung redeten, würden nicht selten ignoriert.

Jeder Mann hat irgendwann in seinem Leben Gewalt erfahren

Dabei bewege sich "die Gewalt, die Männern angetan wird, mindestens in der Größenordnung der Gewalt gegen Frauen", so Lenz. "Sie ist vermutlich sogar noch größer." Jeder Mann habe irgendwann in seinem Leben Gewalt erfahren, meist von den eigenen Geschlechtsgenossen. "Ein Bruchteil der an Männern begangenen Gewalt wird von Täterinnen verübt, zum Beispiel in Partnerschaften."

Die Gewalterfahrung von Männern läßt sich belegen. Laut Kriminalstatistik sind zwei Drittel aller Gewaltopfer männlich. In Deutschland erleiden 430 000 Männer pro Jahr bei einer registrierten Straftat Gewalt. Besonders betroffen sind Jugendliche. Einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Hannover zufolge sind 1997 etwa in der Altergruppe der 14- bis 18jährigen Jungen 3,7 mal häufiger Opfer von Gewalt geworden als Mädchen.

Hierin nicht eingeschlossen waren sexuelle Gewalttaten, von denen Mädchen und junge Frauen weitaus häufiger betroffen sind als Jungen und Männer. Allerdings: Befragungen ergaben, daß zwischen drei und 16 Prozent der Männer und zwischen neun und 33 Prozent der Frauen irgendwann in ihrem Leben sexuelle Gewalt erlitten haben. Auch für homosexuelle Männer ist die Gewalt innerhalb und außerhalb von Beziehungen alltäglich.

Bei der häuslichen Gewalt gibt es eine hohe Dunkelziffer

Die Orte, an denen Jungen und Männer Gewalt erfahren, sind mannigfaltig: in der Schule, in der Clique, bei der Bundeswehr, im Gefängnis, im Heim, in der Anstalt, in der Partnerschaft und in der Familie.

Bei der häuslichen Gewalt gibt es nach Meinung von Experten eine hohe Dunkelziffer. "Psychologie Heute" zitiert eine Metaanalyse des britischen Wissenschaftlers John Archer, in die 82 Einzeluntersuchungen eingingen. Archer sei zu dem Schluß gekommen, "daß etwa gleich viele Frauen ihre Partner physisch angreifen wie umgekehrt Männer ihre Partnerinnen".

Sein Kollege Martin S. Fiebert von der University of California bilanzierte nach der Auswertung von 99 Studien und 122 Literaturarbeiten: "Frauen sind in ihren Beziehungen zu ihren Ehegatten oder Partnern körperlich so aggressiv wie Männer oder aggressiver."

Für Deutschland gibt es zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt nur eine Untersuchung für das Jahr 1991, die 1995 vom Kriminologischen Institut Niedersachsen veröffentlicht wurde. Danach wurden im Untersuchungsjahr 246 000 Frauen und 214 000 Männer zwischen 20 und 59 Jahren "Opfer schwerer Gewalthandlungen in engen sozialen Beziehungen." Zum Vergleich: Im selben Jahr lag die Zahl der mißhandelten Kinder in Deutschland bei 1,4 Millionen und die der mißhandelten Personen über 60 bei 172 000.

Jede Täterin und jeder Täter ist in anderen Zusammenhängen selbst Opfer gewesen, ist die Sozialpädagogin und ehemalige Bewährungshelferin Dr. Barbara Kiesling überzeugt. Sie hat vor zwei Jahren eine Studie über Frauen, die ihre Partner getötet haben, vorgelegt ("...einfach weg aus meinem Leben", Psychosozial-Verlag, Gießen). Die meisten Klienten seien in ihrer Kindheit selbst mißhandelt worden.

Professor Gerhard Amendt vom Institut für Geschlechter- und Generationenforschung der Universität Bremen hat in seiner kürzlich veröffentlichten Studie zu Scheidungsvätern ermittelt, daß in 60 Prozent der aufgezeigten Gewaltfälle während der Trennung oder Scheidung die Partnerinnen mit Handgreiflichkeiten anfingen, in 18 Prozent die Männer und in 22 Prozent beide. Wege aus der Gewalt führten immer nur über das Begreifen der Ursachen. "Wer sich von dem Wunsch befreien kann, nur Recht zu haben und den anderen nur im Unrecht zu sehen, der ist auf dem besten Weg, seine Beziehung zu erhalten, eine gefährdete zu heilen oder eine gescheiterte nicht in der nächsten zu wiederholen." Pete Smith



FAZIT

Nicht nur Frauen, Kinder und Alte werden Opfer von Gewalt - auch Männer sind oft betroffen, nach Expertenmeinung sogar häufiger als Frauen. In Deutschland sind es laut Kriminalstatistik 430 000 Männer pro Jahr, besonders betroffen sind Jugendliche. Die meisten von ihnen schweigen dazu, jene, die sich offenbaren, werden häufig ignoriert.

Mehrere Studien kommen darüber hinaus zu dem Ergebnis, daß Männer in Partnerschaften genauso oft von Frauen attackiert werden wie Frauen von Männern. (Smi)

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