Diabetes mellitus

Neue Techniken verändern den Praxisalltag von Diabetologen – und den Alltag der Patienten

Der Arbeitsalltag von Diabetologen und Diabetesfachkräften ändert sich gerade fundamental. Ursache ist die rasche Digitalisierung der Diabetologie. Das wirkt sich auch auf die Schulungsinhalte für Patienten aus.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Die Fülle aller diabetesbezogenenDaten verlangt eine Analyse.

Die Fülle aller diabetesbezogenen Daten verlangt eine Analyse.

© AndreyPopov / Getty Images / iStock

„AGP, AID und ICA; CGM, FGM und iPDM; DDG, ADA - AGDT; IDR, TBR und TIR. MfG – mit freundlichen Grüßen, die Welt liegt uns zu Füßen...“ – Der Song „MfG“ der Band „Die Fantastischen Vier“ würde auch mit Kürzeln aus der Diabetologie funktionieren. Deren Zunahme kennzeichnet den raschem Rhythmus des sich wandelnden Arbeitsalltags in Diabeteskliniken und diabetologischen Schwerpunktpraxen, von Diabetesberatern und Diätassistentinnen. Die neuen Technologien verändern fundamental Praxisabläufe und Arzt-Patienten-Kontakte, die Erwartungen der Patienten sowie die Anforderungen an die beteiligten Health Care Professionals.

Die „Technologisierung des Diabetes“ ist in aller Munde. Der Leipziger Diabetologe Dr. Tobias Wiesner sieht sie als Chance für die zeitgemäße Betreuung der Patienten (Diabetologe 2020: 16: 6–11). Andererseits fühlten sich viele Diabetesfachkräfte von den technischen Innovationen überrollt, berichten Astrid Tombek und Kathrin Boehm aus Bad Mergentheim (Diabetologe 2020; 16: 19-26). Wiesner erwartet, dass sich die Patienten- und Behandlerzufriedenheit sowie die Behandlungsqualität langfristig verbessern werden. Tombek und Boehm mahnen, dass nicht jeder Patient für jedes System geeignet sei.

Sicher ist: Die Zeiten handgeschriebener Blutzuckertagebücher sind vorbei. Insulinpumpen, Smartpens, Smartphones und Wearables senden Daten an die Praxis oder in die Cloud. Algorithmen unterstützen die Datenanalyse, sorgen für teilautomatisierte Insulingaben. Der informierte, gut geschulte Patient wird autonomer als zuvor, Fernbehandlung per Telemedizin wird Realität. All das hat Auswirkungen auf die Arbeitsweise von Diabetologen und Diabetesfachkräften.

Zunächst zwei positive Effekte: Der Kontakt zum Diabetes-Patienten wird dank Technik enger. Konnte dieser früher vielleicht einmal im Quartal alle Fragen und Nöte, positiven und negativen Erlebnisse beim Praxisbesuch in kurzer Zeit unterbringen, sind Arzt und/oder Assistenten nun via Web mehr oder weniger jederzeit erreichbar. Zweitens: Waren früher selbst vier Blutzuckerselbstmessungen täglich unter Umständen schwer zu interpretieren, stehen heute dem Diabetologen wesentlich mehr Informationen zur Verfügung. „Selbst wenn die Dokumentation der Patienten in Bezug auf Kohlenhydrate und/oder Insulin reduziert ist, erkennen wir an den Tageskurven deren Verhalten“, erklärt Wiesner. Blackbox Nachtwerte? - Gibt es nicht mehr! Resultat: „Es werden viel mehr Hypoglykämien als früher festgestellt.“

Wunsch nach Heilung mittels Technik

Und wie sieht die Patientenperspektive aus? Die Technik mag komplex sein. Im Alltag zeige sich jedoch, dass vieles einfacher, unkomplizierter, entspannter werde, stellt Wiesner fest. Wer mit einem Smartphone umgehen kann, beherrscht relativ intuitiv auch andere Geräte. Insulinpumpen passen per Glukosesensor eigenständig die Insulinabgabe an. Die komplett automatisierte Insulingabe (AID) ist zwar noch nicht Realität, aber eine ganze Szene bastelt an Do-it-yourself-AID-Systemen – was straf- und haftungsrechtliche Probleme mit sich bringt. Wiesner deutet solche Aktivitäten als Wunsch der Patienten nach einer optimalen Therapie.

Auf Seiten der Ärzte und Diabetesfachkräfte sorgt die hohe Geschwindigkeit von Neuentwicklungen bei zugleich fehlenden Standards für Verunsicherung. Waren sie früher noch die Experten für die in vergleichsweise großen Zeitabständen auf den Markt kommenden Hilfsmittel, werde man heute bereits mit Detailfragen konfrontiert, bevor man das Produkt selbst zu Gesicht bekommen habe, berichten Tombek und Boehm. Sie raten zu Gelassenheit: „Ich muss nicht mehr jedes Detail wissen, aber ich muss wissen, wo es steht.“ Hilfe zur Selbsthilfe bedeute, zeigen, wo man Informationen nachschlagen könne – gerne gemeinsam mit dem Patienten.

Es reicht allerdings nicht, sich mit einem spezifischen System auszukennen. Es braucht Zusatzkenntnisse: Was sind eine sichere Cloud, Auslesesysteme, Software? Wie sieht es mit Datenschutz und Datensicherheit aus und wie mit der Schulung für dieses oder jenes System? Das Vorhalten digitaler Kompetenz, kritisiert Wiesner, werde derzeit wie ein therapeutisches Hobby behandelt. Ein Hobby, das angesichts des Fortbildungsdrucks zeit- und kostenaufwändig sei – und alternativlos. „Patienten werden sich bei Hinwendung zu einer Diabetestechnologie auch die entsprechenden Schwerpunktpraxen suchen, die das unterstützen.“ Er fordert ein Qualitätskriterium „Digitalisierte Schwerpunktpraxis“ mit entsprechender Vergütung sowie angepasste Patientenschulungen. Bislang seien Schwerpunktpraxen hierbei in Vorleistung getreten.

Differenziertes Patienten-Training

Tombek und Boehm schlagen ein differenziertes Patiententraining für die korrekte Anwendung von Technologie im Alltag vor. Zunächst müsse geklärt werden, welcher Patient sich überhaupt eignet. Dabei helfen Antworten auf folgende Fragen:

  • Spritzt der Patient Insulin? Ist das nicht der Fall: Würde er von Apps mit Coaching-Funktion profitieren?
  • Nutzt der Patient ein Smartphone? Wenn ja: Ist es kompatibel mit Hilfsmitteln?
  • Ist der Patient bereit, einen Fremdkörper am Körper zu akzeptieren?
  • Welche Blutzuckerwerte kann der Patient ertragen? Manche glauben auf jeden angezeigten Wert sofort reagieren zu müssen.
  • Wie oft hat der Patient bisher selbst Korrekturen vorgenommen?

„Nicht alle Patienten profitieren am Ende von der Nutzung aller Möglichkeiten“, schreiben Tombek und Boehm. Bei manchen Patienten sei es sinnvoll, sich auf die Grundlagenschulung zu beschränken. Bei Hybridsystemen sei die Kenntnis einer sicheren Grundeinstellung wichtig, falls das System ausfallen sollte oder wenn aufgrund einer Fehlbedienung die Sicherheitsabschaltung erfolgt. Bei notwendiger Kalibration von Geräten müssen Patienten wissen, wie diese korrekt ausgeführt wird. Trainiert werden soll das Auslesen und Auswerten der Daten.

Neue Begriffe, mit denen umgegangen werden muss, sind TIR (time in range) und die Blutzuckervariabilität. Denn beides sagt mehr aus über die Qualität der Stoffwechseleinstellung als allein klassische Parameter. Wenn es künftig vermehrt telemedizinische Visiten geben wird, müssen die Patienten auch wissen, wie sie vorab ihre Daten übertragen können.

Hilfe zur Selbsthilfe bedeutet, zeigen, wo man Informationen nachschlagen kann – gerne gemeinsam mit dem Patienten.

Astrid Tombek, Diabetes-Klinik, Bad Mergentheim und Kathrin Boehm, Diabetes-Akademie e. V., Bad Mergentheim

Für Diabetologen ändert sich die Betreuung ihrer Patienten ebenfalls. Bereits vor der Vis-a-vis-Sprechstunde müssen digitale Daten heruntergeladen und gesichtet werden. Im Moment gestaltet sich das kompliziert, weil keine systematische Zusammenführung von Datenbanken verschiedener Systeme existiert. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) fordert eine Interoperabilität und verbindliche Standards für die Datenübertragung und Datenspeicherung. Wiesner: „Firmenspezifische Lösungen erschweren die Arbeit in der Praxis erheblich.“

Nutzung von Analysesoftware

Wegkommen müsse man außerdem, so Wiesner, vom Durchdenken einzelner Glukoseverläufe und Insulingaben. „Die Fülle aller diabetesbezogenen Daten verlangt eine Analyse, zum Beispiel Mustererkennung von Glukoseverläufen, teilweise gekoppelt mit automatisch generierten Therapieempfehlungen.“ Voraussetzung dafür ist die Nutzung von Analysesoftware. Gut geschulte Patienten kommen bereits mit Ergebnissen solcher Analysen in die Praxis und wollen auf Augenhöhe mit dem Arzt darüber beraten. Auch dies stellt eine neue Qualität im Arzt-Patienten-Verhältnis dar. Andererseits stelle sich, so der Leipziger Diabetologe, die Frage, ob Patienten mit der hohen Informationsdichte aus CGM-Systemen, Fitness-Trackern und Dokumentations-Apps zurechtkommen und tatsächlich ein Selbstmanagement umsetzen können.

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