Neuer Erklärungsversuch für Sinnestäuschung

"Sinnestäuschungen sagen die Wahrheit über die Wahrnehmung", lautet ein Merksatz der Physiologie. So sind optische Täuschungen immer ein Hinweis auf ein allgemeines Prinzip des Sehens, sagt Professor Michael Bach von der Universität Freiburg bei einer Tagung in Tübingen. Doch der Ausdruck "optische Täuschungen" klinge abwertend, als ob ein Fehler des Sehapparats vorläge. Tatsächlich jedoch enthüllen diese Phänomene, die ja gewöhnlich nur bei künstlichen Objekten auftreten, eine fest im Gehirn verdrahtete Anpassung an gängige Betrachtungsweisen. Das gilt auch für das berühmte Hermann-Gitter.

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Das Hermann-Gitter kennt jeder Arzt aus seinen Grundlagen-Lehrbüchern. Über 40 Jahre lang kursierte dafür eine einigermaßen glaubhafte Interpretation, bis sie sich kürzlich durch eine geringfügige Manipulation als völlig unzureichend erwies.

Mehr hemmende Signale beim Betrachten einer Kreuzung

Bereits 1870 hatte der Physiologe Ludimar Hermann entdeckt, daß ein Muster von schwarzen Quadraten, umgeben von weißen Streifen, zu einer Helligkeitstäuschung führt. In den Kreuzungen erscheinen verwaschene graue Flecken, die verschwinden, sobald man sie genau angucken will. Lange Zeit diente zur Deutung ein Modell, das Günter Baumgartner 1960 vorgestellt hatte.

Demnach ist die Netzhaut aus konzentrischen rezeptiven Feldern aufgebaut: Diese wie Mexikanerhüte aussehenden Felder bestehen aus acht Photorezeptoren, die einen Ring bilden, sowie einem weiteren im Zentrum. Alle neun Rezeptoren zusammen sind an eine Ganglienzelle angeschlossen.

Fällt Licht auf den zentralen Zapfen, wird die Ganglienzelle aktiviert und antwortet mit elektrischen Impulsen (Spikes). Werden gleichzeitig auch die äußeren Zapfen beleuchtet, vermindern sich jedoch die Spikes. Aus diesem Meßergebnis folgerte der Freiburger Neurophysiologe, daß die Zapfen des Rings hemmend wirken.

Hockt beim Betrachten des Hermann-Gitters ein zentraler Photorezeptor in der Mitte einer "Straße", erregt er zwar die zugehörige Ganglienzelle, aber sie bekommt von zwei Stellen im Umfeld zugleich hemmende Signale. Noch schwächer dagegen ist der Lichteindruck, den eine Ganglienzelle von einer Kreuzung ans Gehirn schickt, denn sie erhält vier hemmende Signale.

Bei genauer Betrachtung mit der Fovea, der Stelle schärfsten Sehens, verschwinden die grauen Flecken, weil die rezeptiven Felder dort recht klein sind, so daß es keinen Unterschied macht, ob man Straßen oder Kreuzungen anschaut.

Daß eine solche rein auf die Netzhaut gegründete Theorie an Grenzen stößt, dieser Verdacht besteht schon länger. Zur Gewißheit erhärtete er sich im vorigen Jahr, als der ungarische Wissenschaftler Dr. Janos Geier mit einer verblüffenden Abwandlung Aufsehen erregte: Werden die Straßen sinusförmig gekrümmt, verfliegen die grauen Flecken sofort. "Mich persönlich erstaunt, welch geringe Verdrillung genügt, um die optische Täuschung zunichte zu machen", so Bach.

Hemmung und Erregung der Zellen werden verrechnet

Nach seiner Ansicht berücksichtigt die Baumgartner-Hypothese nicht, daß das auf der Netzhaut entstehende Bild umkodiert wird, damit die 100 000 Fasern des Sehnervs weniger Signale übertragen müssen. Vergleichbar einer Datenkompression beim Computer findet mit dem rezeptiven Feldprofil der Ganglienzellen eine Faltung (Konvolution) statt. Dabei handelt es sich um eine mathematische Operation, die man sich als Verrechnen von Hemmung und Erregung vorstellen kann.

Das Gehirn muß dann die Gegenoperation vollziehen. Gerade dieses Rückgängigmachen der Kodierung versagt offenbar beim klassischen Hermann-Gitter. Bei der verdrillten Spielart jedoch filtern vermutlich orientierungsempfindliche Gebiete im Kortex Informationen der Netzhaut heraus, so daß die Helligkeit korrekt wahrgenommen wird.

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