Schlechte Presse

Patienten setzen Statine ab

Negative Medienberichte verunsichern offenbar Patienten mit Statinen. Unmittelbar nach einer Diskussion über mögliche Risiken im Jahr 2013 setzten deutlich mehr Patienten als üblich solche Arzneien ab.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Zeitunglesen informiert – und beeinflusst das eigene Handeln.

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© aletia2011 / fotolia.com

LONDON. Der Arzt ist längst nicht mehr die einzige medizinische Informationsquelle für Patienten: Er muss mit dem Internet, Fernsehen, Radio und Zeitungen konkurrieren. Die Frage ist eher, wem die Patienten mehr trauen. Zwar dürften Ärzte als ausgewiesene Experten noch immer als glaubwürdigste Quelle gelten, allerdings ist der Einfluss der Medien nicht unerheblich, vor allem wenn die Patienten negative Schlagzeilen über die eigene Medikation sehen.

Wie stark solche Berichte die Therapiewahl und die Compliance beeinflussen, haben britische Forscher um Anthony Matthews von der London School of Hygiene and Tropical Medicine anhand einer Mediendiskussion um Statine untersucht. So erschienen im Oktober 2013 zwei Artikel im British Medical Journal (BMJ 2013; 347:f6123; BMJ 2013; 347:f6340), von denen einer nahelegte, dass zumindest bei Patienten mit relativ geringem kardiovaskulärem Risiko eine Statintherapie mehr schadet als nützt.

Heftige öffentliche Diskussion

Da das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) zu diesem Zeitpunkt gerade dabei war, in seinen Leitlinien den Kreis der Statinempfänger zu erweitern, kam es zu einer heftigen öffentlich geführten Diskussion. Das NICE schlug vor, statt wie bisher bei einem Zehnjahresrisiko von 20 Prozent für kardiovaskuläre Ereignisse schon bei einem Risiko von 10 Prozent eine Statintherapie zu erwägen - im Lichte der aktuellen Daten hielten dies einige Experten für übertrieben.

Im März 2014 erreichte die Diskussion ihren Höhepunkt und wurde von vielen Medien aufgegriffen, wobei häufig die potenziellen Nebenwirkungen der Statine im Fokus standen.

Das Team um Matthews hat nun geschaut, ob die Statinverordnungen darunter litten (BMJ 2016;353:i3283). Dazu knöpften sich die Epidemiologen die britische Datenbank "Clinical Practice Research Datalink (CPRD)" vor. Sie enthält Verordnungsdaten von rund sieben Prozent der britischen Bevölkerung.

Anhand der Angaben konnten die Wissenschaftler für jeden Monat zwischen Januar 2011 und März 2015 feststellen, wie viele Patienten erstmals mit einer Statintherapie begannen und wie viele sie unterbrachen. Als Unterbrechung galt, wenn die Patienten einen Monat nach dem Ende des letzten Verordnungszeitraums kein neues Rezept erhalten hatten. Dies schloss natürlich nicht aus, dass sie ihre Therapie zu einem späteren Zeitpunkt wiederaufnahmen.

Die Forscher um Matthews fanden in den knapp vier Jahren rund 70.000 Patienten, die erstmals zur Primärprävention ein Statin erhielten, und 28.600, die eine Behandlung zur Sekundärprävention begannen. Jeweils 457.000 und 230.000 Patienten setzten die Primär- und Sekundärprävention mit Statinen in dieser Zeit ab.

Vor dem Oktober 2013 stieg die Zahl der erstmaligen Statinverordnungen zur Primärprävention konstant an, an diesem Trend änderte sich auch nach dem März 2014 nichts. Die Zahl der erstmaligen Statinverordnungen zur Sekundärprävention war vor dem Oktober 2013 leicht rückläufig und nach dem März 2014 sogar etwas höher als erwartet, die Abweichung war letztlich aber nicht signifikant. Ein negativer Einfluss der Medienberichte auf den Beginn einer Statintherapie ließ sich damit jedenfalls nicht nachweisen. Anders sah es bei den Therapieunterbrechungen aus. Deren Zahl lag in den ersten sechs Monaten nach den Medienberichten bei Patienten mit Statin-Primärprävention um 18 Prozent höher als üblich, bei denen mit Sekundärprävention ergab sich eine 12 Prozent höhere Rate. Hier waren die Unterschiede jeweils statistisch signifikant.

Vor allem Patienten, die schon lange Statine nahmen, setzten diese vermehrt ab, ebenso ältere Menschen. Nach weiteren sechs Monaten traten Therapieunterbrechungen jedoch wieder so selten auf wie zuvor. Zur Kontrolle untersuchte das Team um Matthews Zahlen zur Glaukom-Medikation. Hier gab es bei den Verordnungen keinerlei unerwartete Abweichungen im Beobachtungszeitraum.

Die Epidemiologen um Matthews verweisen auf ähnliche Berichte aus anderen Ländern, die ebenfalls einen Einbruch der Statinverordnungen nach kritischen Medienberichten nahelegen.

Es gab nicht nur negative Presse

Der Medienexperte Professor Gary Schwitzer von der Uni in Minneapolis mahnt jedoch bei der Beurteilung des Medieneinflusses zur Vorsicht. So werde meist ein negativer Einfluss journalistischer Artikel angenommen, jedoch tendierten Journalisten insgesamt häufiger dazu, den Nutzen einer Therapie zu übertreiben und die Nebenwirkungen zu vernachlässigen. Schwitzer beruft sich dabei auf eine Auswertung von tausenden Berichten in den vergangenen zehn Jahren. Auch im Fall der britischen Statindiskussion habe es nicht nur negative Presse gegeben, einige Medien thematisierten die Gefahr, dass es viele Leben kosten könnte, wenn verunsicherte Ärzte weniger Statine verordneten.

Schwitzer hält es für einen Vorteil, wenn medizinische Kontroversen in die Öffentlichkeit getragen werden. "Letztlich geht es hier nicht um Journalismus, sondern um die Frage, wie Wissenschaft und Medizin mit Ungewissheiten umgehen", schreibt er in einem Editorial zu der Publikation (BMJ 2016; 353:i3379).

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