Leitartikel

Psychiater fordern höheren Stellenwert ihres Faches in der Arztausbildung

Haus- und Fachärzte für organische Krankheiten bekommen meist mehr psychisch Kranke zu sehen als Psychiater und Nervenärzte. Daher sollten sie über gute psychiatrische Kenntnisse verfügen, so Psychiater auf ihrem Weltkongress in Berlin.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Hospitanz in der Psychiatrie: Nur eine Option, um die psychiatrischen Kenntnisse von Ärzten anderer Fachbereiche zu verbessern.

Hospitanz in der Psychiatrie: Nur eine Option, um die psychiatrischen Kenntnisse von Ärzten anderer Fachbereiche zu verbessern.

© Cultura Images / F1online

Es ist zumindest ein gutes Zeichen: In Großbritannien seien im vergangenen Jahr in der Presse erstmals mehr positive als negative Artikel über Psychiatrie und psychische Erkrankungen erschienen, sagte Professor Sir Simon Wessely vom Kings's College in London. "Haben wir es also geschafft?" fragte der Experte bei der Eröffnung des WeltPsychiatrie-Kongresses in Berlin am Sonntagabend. Wohl kaum, gab er sich selbst die Antwort. So würde die Psychiatrie sowohl in der Öffentlichkeit als auch unter Ärzten noch immer recht wenig geschätzt.

Der Präsident des Royal College of Psychiatrists verwies auf den immer noch existierende Graben zwischen somatischer und psychiatrischer Medizin.

So höre er von angehenden Ärzten häufig, die Psychiatrie sei gar keine richtige Medizin, die Diagnosen beliebig, die Therapien wirkungslos. Mit dieser Einstellung schadeten sich Ärzte jedoch selbst. Wessely verwies in Berlin auf eine US-amerikanische Untersuchung, wonach nur bei rund zehn Prozent der Patienten eine organische Ursache ihrer Beschwerden zu finden sei, die einen Arzt wegen Brust-, Kopf-, Rücken oder Bauchschmerzen, Fatigue oder Benommenheit aufsuchten. "Nicht wenige dieser Patienten dürften an einer Depression oder Angststörung leiden", sagte der Psychiater.

Bessere Verzahnung mit somatischer Medizin!

In einer eigenen Untersuchung am Kings' College fanden somatische Fachärzte bei mehr als der Hälfte der Neuzugänge keine Ursachen für die Beschwerden. Wenn man bedenke, dass ein Kardiologe um die 30 Patienten in der Woche neu zu Gesicht bekomme, und davon etwa die Hälfte keine körperlichen Auffälligkeiten zeige, sei davon auszugehen, dass Kardiologen jede Woche mehr neue Patienten mit psychischen Störungen in der Praxis hätten als niedergelassene Psychiater, die pro Woche oftmals nur drei bis vier Neuzugänge begrüßten.

Studien ergaben zudem, dass Patienten mit chronischer Fatigue, mit Reizdarm, mit chronischem Rückenschmerz oder mit anderen Diagnosen ohne organischen Befund bei Ärzten als besonders schwierig gelten, weil die Behandlung oft frustran sei. Viele Ärzte würden nicht realisieren, dass solche Krankheiten oft eine sehr starke psychische Komponente hätten.

Wessely forderte daher eine bessere Verzahnung der Psychiatrie mit anderen Disziplinen, etwa über psychiatrische Konsile in Allgemeinkrankenhäusern sowie eine stärkere Einbindung der Psychiatrie in die Ausbildung von Ärzten, Krankenschwestern und Pflegepersonal. Dies könne auf lange Sicht auch deutlich Geld sparen. Der Experte verwies auf Projekte in Großbritannien, bei denen die Einbeziehung von Psychiatern in Allgemeinkrankenhäusern die Behandlungskosten reduzieren konnte. So würden etwa Typ-2-Diabetiker mit schlechter psychischer Gesundheit doppelt so viele finanzielle Ressourcen benötigen wie jene mit einem robusten seelischen Zustand. Psychiater könnten also zu einer deutlichen Kostenersparnis um Gesundheitswesen beitragen.

In Großbritannien habe man nun Schritte unternommen, um sowohl die Zahl der Psychiater zu erhöhen, als auch die psychiatrischen Kenntnisse anderer Fachärzte zu verbessern. So würde mittlerweile rund die Hälfte der angehenden Ärzte ein viermonatiges Psychiatriepraktikum absolvieren, auch schaffe man mehr Praktika- und Ausbildungsplätze an Kliniken mit Schwerpunkt Psychiatrie und Allgemeinmedizin.

Rund 10.000 Besucher aus 120 Ländern

Allerdings sei es noch ein weiter Weg, bis die Psychiatrie als gleichwertiger Teil der Medizin wertgeschätzt werde. Wessely zeigte recht aktuelle Überschriften aus der Publikumspresse zu chronischer Fatigue (CFS), nachdem Forscher Unterschiede in Hirnscans zwischen Betroffenen und Gesunden gefunden hatten: "Ist das der Beweis, dass chronische Fatigue tatsächlich existiert?", fragte die "Daily Mail". "Wenn die Presse psychische Krankheiten nicht mehr ‚wirklichen‘ Krankheiten gegenüberstellt, dann erst können wir sicher sein, dass die Psychiatrie ebenso ernst genommen wird wie die somatische Medizin", erläuterte Wessely.

Der 17. Kongress der World Psychiatric Organisation (WPA) findet noch bis Donnerstag, 12. Oktober in Berlin statt. Zu dem Kongress werden rund 10.000 Besucher aus 120 Ländern erwartet.

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