Sepsis - die ersten Stunden sind entscheidend

Sie wird oft unterschätzt. Dabei ist die schwere Sepsis mit einer Letalität von bis zu 55 Prozent ähnlich gefährlich wie Herzinfarkt und Schlaganfall. Privatdozent Christian Wrede, Chefarzt des Interdisziplinären Notfallzentrums am Helios-Klinikum Berlin-Buch, erläutert, welchen Beitrag eine interdisziplinäre Notaufnahme zur Sepsisfrüherkennung leisten kann.

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Ärzte Zeitung: Die Zahl der Sepsispatienten geht in den sechsstelligen Bereich ...

"Die Diagnostik darf die Behandlung nicht verzögern." Privatdozent Christian Wrede Helios-Klinikum Berlin-Buch

Privatdozent Christian Wrede: Das ist richtig, deutschlandweit gehen wir von etwa 110 000 Neuerkrankungen pro Jahr aus. Davon entfallen 52 000 auf die sogenannte schwere Sepsis, die in Studien eine Letalität von bis zu 55 Prozent und bei Organversagen von 70 Prozent und mehr aufweist. Wir reden also von einem häufigen Erkrankungsbild mit einer Prävalenz von um die zehn Prozent auf Intensivstationen. In unserem Haus mit über 1000 stationären Betten behandeln wir etwa 700 Patienten mit Sepsis pro Jahr.

Ärzte Zeitung: Wie werden Sepsis-Patienten auffällig?

Wrede: Ein nicht geringer Anteil der Sepsis-Patienten erreicht uns über die Notaufnahme. Sie kommen also oft von zu Hause oder aus kleineren Krankenhäusern beziehungsweise Pflegeheimen. Diese Patienten müssen wir so schnell wie möglich erkennen und behandeln. Es gibt Daten aus großen Observationsstudien, die zeigen, dass eine frühe leitliniengerechte Therapie die Sepsis-Sterblichkeit um absolut 5,4 Prozent senken kann. Das sind auf Deutschland hochgerechnet viele hundert Patienten pro Jahr.

Ärzte Zeitung: Wann sollten die Alarmglocken schrillen?

Wrede: Das Problem bei der Sepsis ist, dass es kein spezifisches Symptom gibt. Fieber über 38 oder unter 36 Grad Celsius, niedriger Blutdruck, hohe Herz- und Atemfrequenz, das sind die Dinge, die man erwarten würde. Jegliche Art von Bewusstseinsveränderung ist auch hoch verdächtig, das finde ich persönlich oft ein hilfreiches Kriterium. Entscheidend ist, dass man rasch behandelt, wenn sich der Verdacht erhärtet und die Kreislaufsymptome nicht anderweitig erklärbar sind. Wichtig ist, dass die Diagnostik die Behandlung nicht verzögert. Blutkulturen sollten natürlich abgenommen werden. Ein Röntgenbild vor Therapiebeginn ist erlaubt, wenn es innerhalb von zehn Minuten verfügbar ist. Mit allem anderen kann man warten. Das Wichtigste ist dann die intravenöse Breitspektrum-Antibiotika-Therapie. Die Auswahl der Substanzen orientiert sich an der individuellen Resistenzsituation im jeweiligen Krankenhaus. Der zweite Pfeiler ist Flüssigkeit. Ärzte Zeitung: Was ist mit gerinnungswirksamen Substanzen? Wrede: Die Wirksamkeit von aktiviertem Protein C wurde in einer randomisiert-kontrollierten Studie belegt. Es gibt einen Konsens, dass APC in erster Linie bei schwerer Sepsis eingesetzt werden sollte, weil es sich in einer Post-hoc-Analyse herausgestellt hat, dass diese Patienten am meisten profitieren. Wir orientieren uns in der Regel am APACHE*-Score. Über 25 sollte APC unter Beachtung der Kontraindikationen zum Einsatz kommen. Entscheidend ist allerdings, dass das früh passiert, idealerweise in den ersten 24 Stunden. Drei Tage nach Krankheitsbeginn ist es definitiv zu spät. Ärzte Zeitung: Geben Sie Heparin? Wrede: Wir geben Heparin in prophylaktischen Dosierungen, solange PTT und Quick das erlauben, aber es gibt keine Evidenz dafür, dass subkutan applizierte Heparine bei schwerer Sepsis ausreichend resorbiert werden. Eine Vollheparinisierung ist nicht indiziert, solange es dafür keine anderen Gründe wie Herzklappen oder Vorhofflimmern gibt.

Ärzte Zeitung: Sie leiten als Chefarzt eine interdisziplinäre Notaufnahme. Wie üblich ist diese Konstruktion?

Wrede: Aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin sollte eine interdisziplinäre Notaufnahme Standard sein. Die Realität sieht freilich noch etwas anders aus. Es gibt keine genauen Zahlen, aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Mehrheit der großen Krankenhäuser dieses Konzept schon umgesetzt hätte. Allerdings werden zunehmend unabhängige Leitungspositionen ausgeschrieben, das Bild wird sich also in den nächsten Jahren ändern.

Ärzte Zeitung: Warum ist die interdisziplinäre Notaufnahme von Vorteil?

Wrede: Sie stellt eher sicher, dass der Patient rasch bei dem Spezialisten landet, den er braucht. Ein aktuelles Beispiel: Wir hatten kürzlich einen Patienten mit Schulterschmerz, bei dem sich dann herausstellte, dass er eine Sepsis als Folge einer Pneumonie hatte. Solche Patienten erwischen sie eher, wenn die unterschiedlichen Disziplinen vor Ort sind und Hand in Hand arbeiten. Wäre dieser Patient zuerst in einer chirurgischen Notaufnahme gelandet, hätte das möglicherweise die Therapie verzögert.

Ärzte Zeitung: Gibt es Studiendaten zu diesem Thema?

Wrede: Es gibt Publikationen, die über eine höhere Behandlungszufriedenheit von Patienten in interdisziplinären Notaufnahmen berichten. Ansonsten kommt natürlich viel auf die Logistik und auf die Risikostratifizierung an. Wir arbeiten mit dem Manchester Triage-System, bei dem eine erfahrene Schwester eine Reihe von Parametern erhebt, um einschätzen zu können, wie schnell ein Patient von einem Arzt gesehen werden sollte. Dieses Triage- System ist in mehreren Studien international evaluiert worden und hat sich als sehr praktikabel erwiesen.

Das Interview führte Philipp Grätzel von Grätz.

Der Internistenkongress findet vom 10. bis 14. April in Wiesbaden statt, mehr Infos unter: www.dgim2010.de *APACHE: Acute Physiology And Chronic Health Evaluation, Verfahren auf Intensivstationen zur Vorhersage der Überlebenswahrscheinlichkeit

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