Alt werden mit HIV

Stellschrauben für ein langes Leben mit dem Aids-Erreger

Kann ein Mensch mit HIV genauso alt werden wie jemand ohne die Infektion? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Der Schwerpunktarzt Dr. Christoph Mayr aus Berlin nannte die wichtigsten Stellschrauben bei über 50 Jahre alten HIV-Patienten.

Von Dr. Elke Oberhofer Veröffentlicht:

MÜNCHEN. Menschen mit einer HIV-Infektion haben heute gute Chancen, alt zu werden. Bis zum Jahr 2030 erwartet man einen Anteil von 73 Prozent, den die über 50-Jährigen unter den HIV-positiven Patienten ausmachen. "Die Altersentwicklung bei HIV-Patienten entspricht heute annähernd der in der Gesamtbevölkerung", sagte Dr. Christoph Mayr bei der Münchner AIDS- und Hepatitis-Werkstatt. Dennoch, so der Experte vom Berliner "Zentrum für Infektiologie", bleibe bei der Lebenserwartung im Vergleich zu Nichtinfizierten immer noch eine Lücke.

Oft mehr als drei Komorbiditäten

Die Hauptursache hierfür sieht der Internist in Komorbiditäten, die "manchmal in direkter Folge, manchmal in unheilvoller Koalition" mit HIV auftreten. Die Hälfte der Patienten über 60 habe, so Mayr, zusätzlich zur HIV-Infektion "drei und mehr Begleiterkrankungen", allen voran Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch Nierenfunktionsstörungen, Osteoporose oder Diabetes.

"Wenn es um mehrere Krankheiten geht, haben wir es auch mit wesentlich mehr Medikamenten zu tun", betonte der Infektiologe. Zu den Komorbiditäten kämen daher häufig Beschwerden und Toxizitäten, die durch Nebenwirkungen und Interaktionen von Arzneimitteln verursacht würden. Akut seien gastrointestinale Symptome oder Exantheme häufig, mittelfristig müsse man mit Lipodystrophien, Polyneuropathien, ZNS-Symptomen oder Erektionsstörungen rechnen. Sehr oft gesellen sich psychische Probleme hinzu: Das Lebenszeitrisiko, eine Depression zu entwickeln, liegt bei HIV-Patienten bei 45 Prozent und damit weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt.

Während einige für die HIV-Infektion ehemals charakteristische Krebsarten wie Kaposi-Sarkom oder ZNS-Lymphome auf dem Rückzug sind, ist die Inzidenz anderer Tumorentitäten speziell bei HIV-Patienten in letzter Zeit gestiegen. Dazu gehören der M. Hodgkin, das Anal- und Zervixkarzinom sowie das Bronchialkarzinom.

Raucherleukozytose häufig

Der M. Hodgkin stellt nach Mayr eine "Erkrankung des reifen, guten Immunsystems" dar. Angesichts der Erfolge durch die antiretrovirale Therapie (ART) müsse man sich bewusst sein, dass vermehrt auch wieder solche Erkrankungen auftreten. Auf das durch HPV ausgelöste Anal- bzw. Zervixkarzinom könne man screenen oder frühzeitig dagegen impfen.

Das Bronchialkarzinom schließlich stehe bekanntermaßen mit "liebgewonnenen Gewohnheiten" in Verbindung. Mayr begegnet in der Praxis immer wieder Patienten, die trotz — oder gerade wegen — der HIV-Diagnose vom Rauchen nicht lassen wollen. Das Problem sei dabei jedoch nicht nur das Krebsrisiko, sondern auch das häufige Phänomen der "Raucherleukozytose". Diese sei ein Hinweis auf einen anhaltenden Entzündungsprozess.

Die Inflammation sieht Mayr generell als entscheidenden Faktor beim alternden HIV-Patienten. Zahlreiche Erkrankungen, von der KHK über den Diabetes bis zum Lymphom, und sogar die Gebrechlichkeit seien im Zusammenhang damit zu beschreiben.

Studien hätten gezeigt, dass "eine nicht behandelte HIV-Erkrankung auch bei sehr ordentlicher Helferzellzahl zu einer ständigen Inflammation führt". Aus diesem Grund habe sich die Empfehlung für eine frühzeitige ART mittlerweile durchgesetzt. "Unter der Prämisse, dass eine HIVInfektion frühzeitig entdeckt und behandelt wird, können wir von einer annähernd gleichen Lebenserwartung wie bei der Normalbevölkerung ausgehen", so Mayr. Wo man als Arzt ansetzen müsse, seien die altbekannten Stellschrauben: Ernährung, Bewegung, Gewichtskontrolle, Karenz von schädlichen Substanzen. Entsprechende Maßnahmen seien auch beim HIV-Patienten das "wichtigste Prophylaktikum gegen Gebrechlichkeit".

Interessant ist für Mayr auch noch ein anderer Ansatz: der immunregulierende Effekt von Statinen. Leider würden HIV-Infizierte bei entsprechender Indikation immer noch nicht in gleichem Maße damit behandelt wie Nichtinfizierte; möglicherweise spiele hier Angst vor Wechselwirkungen mit der ART eine Rolle. Dank neuer Strategien sei dieses Problem aber heute weniger relevant als früher.

Mayr wies darauf hin, dass die HIV-Infektion trotz verdächtiger Symptome in bis zu einem Drittel der Fälle erst spät, das heißt bei einer CD4-Zellzahl von< 350/µl, erkannt werde. Bei solchen "Late-Presentern" handle es sich "häufig genug" um Senioren, die zudem "für sich gar kein entsprechendes Risiko beziffern" könnten. In einer Berliner Studie betrug das mediane Alter in einer Gruppe von 268 Late-Presentern 43 Jahre; 18 Prozent von ihnen waren älter als 65. "Wir Ärzte sind daran nicht ganz unbeteiligt", mahnte der Experte: Viele Patienten seien im Jahr vor der HIV-Diagnose "mit Symptomen vorstellig gewesen, bei denen der Arzt an die HIV-Infektion hätte denken können".

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