"Top-Standort für klinische Forschung"

Wer nach Belegen für die hohe Qualität der Medizin in Deutschland sucht, findet sie zum Beispiel in der großen Zahl klinischer Studien zur Entwicklung neuer Arzneimittel. Deutschland ist eines der attraktivsten Länder weltweit für diese Art medizinischer Forschungstätigkeit.

Von Bertold Schmitt-Feuerbach Veröffentlicht:

Über 80 Prozent aller Medikamente, die Patienten in Deutschland zur Verfügung gestellt werden, wurden auch hier untersucht, von Klinikärzten ebenso wie von niedergelassenen Ärzten. Zur Zeit laufen hier zu Lande hunderte von der pharmazeutischen Industrie finanzierte Arzneimittelstudien. Tausende Patienten können so oft schon vor der Zulassung von der Behandlung mit innovativen Medikamenten profitieren.

Klinische Studien mit über 10 000 Patienten in Deutschland

Eines der pharmazeutischen Unternehmen, das erfolgreich in klinischen Studien Arzneimittel entwickelt, ist Novartis. Mit 116 der internationalen Datenbank clinicaltrials.gov gemeldeten Arzneimittelstudien sieht sich das Unternehmen als Auftraggeber - Sponsor von klinischen Studien - an der Spitze in Deutschland. "Wir sind Deutscher Meister in der klinischen Forschung, und wir wollen diese Position weiter behaupten", sagt Dr. Peter Maag, Vorsitzender der Geschäftsführung von Novartis Pharma Deutschland. Über 10 000 Patienten nehmen an diesen Studien teil, die bei der deutschen Konzerntochter in Nürnberg koordiniert werden.

Dort sind 150 Mitarbeiter für Forschung und Entwicklung (F&E) von Arzneimitteln tätig, in der Mehrzahl Ärzte, Pharmazeuten und Naturwissenschaftler. Die F&E-Investitionen der deutschen Konzerntochter sollen in diesem Jahr auf 70 Millionen Euro steigen, das sind sechs Prozent mehr als 2006 und 16 Prozent mehr als vor zwei Jahren.

Über 130 Projekte in der Entwicklung

Dass Novartis überhaupt so viele Studien in Deutschland und anderen Ländern am Laufen hat, verdankt das Unternehmen im Wesentlichen einer gut gefüllten Pipeline. Insgesamt hat der Basler Konzern über 130 Projekte in der klinischen Entwicklung, davon etwa 104 in einer fortgeschrittenen Phase (Phase II, Phase III oder im Zulassungsverfahren). In diesem Jahr hat Novartis schon fünf neue Therapieoptionen in den Markt eingeführt. Fünf weitere sollen bis Jahresende noch folgen (siehe Übersicht).

Dass die Nürnberger so erfolgreich sind, wenn sie sich innerhalb des Konzerns um die Berücksichtigung des deutschen Standorts bei den meist internationalen Studien bewerben, liegt vor allem an den gut ausgebildeten Ärzten und der guten medizinischen Infrastruktur. Die steht, sagt der Medizinische Direktor Dr. Dieter Götte, der in den USA in nichts nach. Das gilt für die Kliniken ebenso wie für die niedergelassenen Ärzte: 51 Prozent der Ärzte, die sich in den Prüfzentren mit Studien für Novartis-Medikamente beschäftigen, sind Niedergelassene.

Klinische Forschung in Deutschland könnte nach Meinung der Verantwortlichen bei Novartis in Nürnberg sogar noch attraktiver sein, wenn eine Reihe von Handicaps aus dem Weg geräumt würden. Ein Teil davon ist bürokratischer Natur. Zwar ist vieles, was an Regularien für klinische Studien zum Schutz der Patienten, zur Sicherung der Qualität und der Verlässlichkeit der Ergebnisse erforderlich und sinnvoll ist, bereits auf europäischer und internationaler Ebene festgelegt. Es gibt aber eine Reihe deutscher Besonderheiten, die das klinische Forschen nicht eben leicht machen. Götte nennt einige Beispiele:

  • So muss, wenn für Studien Röntgenaufnahmen bei Patienten erforderlich sind, vorher ein Antrag beim Bundesamt für Strahlenschutz gestellt werden. Die Behörde, eher bekannt durch ihre Tätigkeit bei der Überwachung von Kernkraftwerken, braucht nicht selten bis zu einem Jahr für die Genehmigung von Anträgen bei klinischen Studien.
  • Außer der für eine Studie ausgewählten federführenden Ethikkommission sind die für die medizinischen Zentren zuständigen lokalen Ethikkommissionen an der Bewertung des Antrags für die klinische Studie beteiligt. Bundesweit gibt es 51 solcher Kommissionen. Götte würde sich wünschen, dass pro Studie nur eine einzuschalten ist, die sich auf die jeweilige Indikation spezialisiert hat.
  • Oft machen die Genehmigungsbehörde einerseits, also das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) oder das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), und die Ethikkommission ganz widersprüchliche Auflagen. So kann es passieren, dass das BfArM mehr Blutentnahmen fordert, während die Ethikkommission solche invasiven Maßnahmen so weit wie möglich vermeiden möchte. Als Arzneimittelhersteller oder Studienleiter wünscht man sich, dass Ethikkommissionen und Behörde sich besser miteinander abstimmen.

Viele Hürden auch nach der Markteinführung

Sorgen anderer Art beschäftigen Dr. Marion Wohlgemuth. Sie ist bei Novartis Pharma Geschäftsführerin Market Access und beschäftigt sich damit, dass die Innovationen den Ärzten nach erfolgreicher Prüfung und Zulassung auch ohne Verordnungseinschränkungen zur Verfügung stehen. Auf den ersten Blick hat Deutschland auch hier einen Standortvorteil. Es ist eines der wenigen EU-Länder, in denen Arzneimittel von den Ärzten gleich nach der Zulassung auf Kassenrezept verordnet werden dürfen und auch zum vollen Preis erstattet werden, abzüglich der gesetzlichen Rabatte und der Patientenzuzahlung. In anderen EU-Ländern schließen sich an die Zulassung schwierige Verhandlungen über die Höhe der Erstattung an.

Was die Ärztin beklagt, sind die vielen Hürden, die nach der Einführung innovativer Arzneimittel aufgebaut wurden. Die Stichworte heißen etwa IQWiG, Arzneimittelrichtlinien, Festbeträge für patentgeschützte Arzneimittel. Die neueste Hürde wird ab etwa 2008 der mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz eingeführte Erstattungshöchstbetrag als Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Bewertung durch das IQWiG sein. "Einer Bewertung unserer innovativen Arzneimittel stellen wir uns jederzeit. Allerdings müssen Bewertungskriterien des IQWiG frühzeitig bekannt sein, damit wir sie bereits in der klinischen Forschung berücksichtigen können." Mit Wettbewerb hat die aktuelle Ausgestaltung ihrer Meinung nach nichts zu tun. "In ihrer Wirkung sind das Preisdiktate für Innovationen durch das Monopol der Kassen", meint sie.

Patienten verlieren durch Bürokratie wertvolle Zeit

Manchmal treten auch ganz unerwartete Hindernisse auf. Beispiel Lucentis®, von der Zeitschrift "Science" als medizinische Innovation des Jahres 2006 gekürt. Das neue Medikament gegen die feuchte Form der altersbedingten Makuladegeneration (AMD) wird zwar von den Krankenkassen erstattet. Für die ärztliche Leistung selbst, die intravitreale Injektion und deren Nachbehandlung, gibt es aber nach wie vor keine EBM-Ziffer. Die Erstattung der Gesamtbehandlung muss daher jeweils in einem zeitaufwendigen Einzelfallantrag mit der zuständigen Kasse geklärt werden. Patienten verlieren wertvolle Zeit. Ist doch die feuchte AMD die aggressivste Form. Unbehandelt kann sie bereits nach wenigen Monaten zur Erblindung führen. "Patienten darf ein Medikament wie Lucentis® nicht vorenthalten werden. Als Unternehmen übernehmen wir Verantwortung. Um Ausgabensicherheit zu gewährleisten, haben wir den Verantwortlichen im Gesundheitswesen einen adäquaten Vorschlag unterbreitet. Alle Beteiligten sollten nun gemeinsam an einem Strang ziehen und eine schnelle bundeseinheitliche Lösung finden," so Wohlgemuth.



Therapien gegen MS und Diabetes

Über 100 Studien hat Novartis Pharma in Deutschland am Laufen. Einige Beispiele:

Für Fingolimod, ein orales Arzneimittel für Patienten mit Multipler Sklerose, das einmal täglich eingenommen wird, laufen gleich zwei internationale Studien, wobei Deutschland die meisten Studienteilnehmer stellt. In einer Studie (TRANSFORMS) wird Fingolimod im Vergleich mit Interferon-beta-1a (Avonex®) getestet, in der zweiten Studie (FREEDOMS) gegen Placebo. Einschlusskriterien für beide Studien sind mindestens ein Schub im letzten Jahr oder zwei Schübe in den letzten zwei Jahren. Voraussetzung für die Teilnahme an der placebokontrollierten Studie ist, dass die Testpersonen eine Behandlung mit verfügbaren Medikamenten gegen schubförmige MS ablehnen. In einer vorangegangenen Phase-II-Studie verringerte sich die Schubrate im Vergleich zu Placebo pro Jahr um 50 Prozent.

AMN107 ist ein neuer oraler Tyrosinkinasehemmer. Er befindet sich bereits im Zulassungsverfahren bei Chronischer Myeloischer Leukämie (CML) für Patienten, die Glivec® (Imatinib) nicht vertragen oder eine Resistenz gegen das Medikament entwickeln. In diesem Jahr startet Novartis neue Zulassungsstudien, in denen das Medikament bei gastrointestinalen Stromatumoren (GIST) getestet werden soll, sowie bei Patienten mit CML, die auf Glivec® nicht optimal ansprechen und bei Patienten, bei denen CML neu diagnostiziert wurde.

In mehreren Studien wird das orale Antidiabetikum Vildagliptin (Galvus®) getestet. Die Empfehlung zur Zulassung in der EU liegt bereits vor. Der Wirkstoff blockiert das Enzym DPP-4, wodurch der Abbau des Inkretins Glucagon-like-Peptide-1 (GLP-1) verzögert wird.

Mehr Informationen zu diesen und weiteren Studien von Novartis in Deutschland: www.novartis.de 

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