HINTERGRUND

Versäumte Lungentransplantation - das Desaster war längst absehbar

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:

In der Nacht erfährt eine schwer lungenkranke Patientin im Münchener Klinikum Großhadern, die mit hoher Dringlichkeit auf der Warteliste für ein neues Organ steht, daß es eine passende Spenderlunge für sie geben könnte. Der Spender aber lag in Zwickau, und es fand sich kein Chirurgenteam, das die Lunge entnehmen wollte (wir berichteten).

Der Grund für die verpaßte Chance: Eine Änderungskündigung der Verträge zwischen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) und Chirurgen, die Organe entnehmen. Die DSO ist in Deutschland für die Organisation der Organspende zuständig.

Die Änderung betrifft die Vergütung: Die DSO möchte keine Rufbereitschaft der Entnahmeteams mehr finanzieren, sondern nur noch den jeweiligen Einsatz. Weil man sich darüber nicht einig wurde und es keine Anschlußregelung gab, wollte das Münchener Explantationsteam nicht nach Zwickau fliegen. Auch die Zentren in Jena, Dresden und Leipzig konnten nicht einspringen.

Allen beteiligten Gruppen war das Problem längst bekannt

Als Skandal hat die bayerische Sozialministerin Christa Stewens (CSU) diesen Vorfall bezeichnet. Tatsächlich liest er sich wie die Chronik eines angekündigten Desasters, denn allen an Organentnahmen beteiligten Gruppen war das Problem seit längerem bekannt. Das belegt ein Blick in die Protokolle der Ständigen Kommission Organtransplantation bei der Bundesärztekammer (BÄK).

Die Kommission hatte sich am 12. Oktober 2005 in Berlin getroffen. Top 9 der Tagesordnung: ein Bericht der DSO. Auf Nachfrage, so heißt es im Protokoll, das der "Ärzte Zeitung" vorliegt, habe DSO-Vorstandsmitglied Professor Günter Kirste gesagt, die Umstellung der Vergütung von Entnahmeteams thorakaler Organe auf eine ausschließlich einsatzbezogene Vergütung bereite zwar "vereinzelt Probleme". Diese seien aber vorübergehender Natur. Die Patientenversorgung in diesem Bereich der Transplantationsmedizin bleibe bundesweit gewährleistet.

In der Kommission sitzen unter anderen vier Vertreter der Deutschen Transplantationsgesellschaft, darunter deren Vorsitzender, ein Münchener Mediziner. Weiterhin sind die DSO, die überregionale Organvermittlungsstelle Eurotransplant in Leiden und die Kostenträger in dem Gremium vertreten.

Querelen erinnern an den Streit über die Hirntod-Diagnostik

Ungewöhnlich ist daher, daß die Münchener Transplantationsmediziner sich auf Anfrage von Medien jetzt überrascht gaben. Zumal Ärzte des Klinikums Großhadern noch einige Tage vor dem Vorfall der DSO nach Angaben von Kirste versichert hatten, sie betrachteten die Verträge mit der DSO in ihrer Gesamtheit als nicht gekündigt und könnten Organentnahmen weiterhin gewährleisten.

Ungewöhnlich auch, daß das Klinikum München Medienberichten zu Folge hoffte, Kollegen aus der Umgebung von Spenderkrankenhäusern würden im Notfall einspringen. Anders als bei Nieren ist es bei der Explantation von Herzen und Lungen in Deutschland - wie auch international - die Regel, daß die implantierenden Ärzte auch die Organe entnehmen, weil diese dann den Anforderungen der jeweiligen Operation am besten angepaßt sind.

Die aktuellen Querelen lösen bei vielen Beteiligten ein Deja-vu-Erlebnis aus. Denn schon im Sommer 2004 begann ein ähnlicher Streit um die Finanzierung der Hirntod-Diagnostik. Auch dort möchte die DSO keine Rufbereitschaft mehr finanzieren. Ein Teil der Neurologen aber sieht eine 24-Stunden-Versorgung mit diagnostisch erfahrenen Ärzten, wie sie die DSO sicherzustellen gesetzlich verpflichtet ist, nicht mehr gewährleistet.

Und auch Anreize, sich kontinuierlich auf dem Gebiet der anspruchsvollen Hirntoddiagnostik weiterzubilden, fielen nach Meinung von Kritikern bei einer nur auf den Ernstfall beschränkten Bezahlung weg. Hinzu kommt, daß externe Zertifizierungen von Hirntoddiagnostik-Teams, wie sie die DSO-Region Nord vor einigen Jahren auf eigene Initiative hin hatte vornehmen lassen, vom DSO-Bundesvorstand wieder abgeschafft wurden.

Die DSO beruft sich bei der Qualitätssicherung der Hirntoddiagnostik auf das - nicht verpflichtende - interne Angebot zur Weiterbildung und die allgemein gehaltenen Richtlinien der BÄK. Darin heißt es nur, die den Hirntod feststellenden Ärzte müßten "über eine mehrjährige Erfahrung in der Intensivbehandlung von Patienten mit schweren Hirnschädigungen verfügen".

Kollegen warnen, die auf den einzelnen Einsatz beschränkte Regelung könnte Anreiz auch für weniger qualifizierte Neurologen sein, sich für eine Hirntoddiagnostik zu melden. Ärzte bestätigen sich ihre eigene Erfahrung gegenüber den Kliniken schriftlich selbst. Seit längerem bemängelt der Vorsitzende des Regionalen Fachbeirats der DSO-Koordinierungsstelle, Professor Lothar Sause, daß es eine effektive Qualitätssicherung nicht gebe.

Der aktuelle Vorfall in München wird Forderungen nach einer besseren Qualitätssicherung der Arbeit der DSO oder sogar nach Veränderungen der Strukturen der Organspende lauter werden lassen. Bayerns Gesundheitsministerin Stewens jedenfalls kündigte an, bei Ministerin Ulla Schmidt auf eine "effektive staatliche Aufsicht über die DSO hinzuwirken."

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Transplantationen - neue Regeln gesucht!

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