Infarktrisiko abschätzen

Weint die Niere, leidet das Herz

Wie hoch die Gefahr ist für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall, lässt sich offenbar gut aus dem Urin herauslesen. Das zeigt eine Studie mit über 600.000 Patienten.

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:
Bei der Abschätzung des Risikos kardiovaskulärer Ereignisse kann auch ein Blick auf den Urin sinnvoll sein.

Bei der Abschätzung des Risikos kardiovaskulärer Ereignisse kann auch ein Blick auf den Urin sinnvoll sein.

© tunedin / fotolia.com

BALTIMORE. Nephrologen predigen schon seit zwei Jahrzehnten, dass sich auch Kardiologen bei der Abschätzung des Risikos kardiovaskulärer Ereignisse gelegentlich den Urin ihrer Patienten ansehen sollten.

Jetzt legen Wissenschaftler des CKD Prognosis Consortiums um Dr. Kunihiro Matsushita von der John Hopkins Bloomberg School of Public Health mit einer aufwändigen Metaanalyse nach, bei der die Daten von 637.315 Menschen aus 24 epidemiologischen Kohorten auf individueller Ebene im Hinblick auf renale Funktionsparameter und kardiovaskuläre Ereignisse nachanalysiert wurden (Lancet Diabetes Endocrinol 2015; online 28. Mai).

Es handelt sich um Kohorten mit ganz unterschiedlichen Risikoprofilen, aber ausnahmslos um Personen, die zu Beginn keine (bekannte) kardiovaskuläre Erkrankung hatten.

Untersucht wurde ein Zeitfenster von fünf Jahren. Mit Hilfe einer (im Online-Appendix der Studie näher erläuterten) C-Statistik wurde konkret überprüft, ob die Hinzunahme renaler Parameter zu den in traditionellen Prognose-Scores genutzten Risikofaktoren die Vorhersagekraft der Scores im Hinblick auf kardiovaskuläre Mortalität sowie tödliche und nicht-tödliche kardiovaskuläre Ereignisse und Erkrankungen (KHK-assoziierte Ereignisse, Schlaganfall und Herzinsuffizienz) verbessert.

Größerer Risikofaktor als Rauchen und Hypertonie

Die analysierten renalen Parameter waren die serumkreatininbasierte eGFR und die urinbasierte Albumin-Kreatinin-Ratio (ACR) beziehungsweise, wenn nicht vorhanden, die Protein-Kreatinin-Ratio oder die semiquantitative Bestimmung einer Proteinurie per Teststreifen.

In bevölkerungsbasierten Kohorten hatten 3,8 Prozent der Individuen eine niedrige eGFR (<60 ml/min), 2,9 Prozent eine hohe Albuminurie (ACR ab 30 mg/g oder Urinstick ab 1+) und 0,6 Prozent beides.

In Hoch-Risiko-Kohorten lagen die entsprechenden Quoten bei 22,5, 13,4 und 4,3 Prozent. Insgesamt gab es über einen Zeitraum von fünf Jahren 10 605 kardiovaskuläre Todesfälle, über 6000 KHK-assoziierte Ereignisse, über 4000 Schlaganfälle und über 2000 neu diagnostizierte Herzinsuffizienzen.

In der Gesamtschau korrelierten sowohl die eGFR als auch die Albuminurie mit den kardiovaskulären Zielgrößen. Allerdings war die Albuminurie aussagekräftiger.

Bei der eGFR zeigte sich eine eher J-förmige Kurve, bei der Studienteilnehmer mit einer hohen eGFR von über 105 ml/min mehr kardiovaskuläre Ereignisse hatten als jene mit einer eGFR zwischen 75 und 105 ml/min. Dagegen zeigte sich für die Albuminurie auf einer logarithmischen Skala eine monotone Beziehung.

Die Vorhersagekraft der traditionellen Risikomodelle wurde durch die Albuminurie vor allem für die kardiovaskuläre Mortalität und die Herzinsuffizienz verbessert, weniger für KHK und Schlaganfall. Bei allen vier Endpunkten war die ACR im Vergleich zur eGFR und auch im Vergleich zur Urinstix-Analyse der bessere Parameter.

In der quantitativen Analyse, mit der der Beitrag einzelner Risikofaktoren zur Risikoprädiktion vergleichend abgeschätzt wird, war die ACR über alle Risikopopulationen hinweg ein stärkerer Risikofaktor als Bluthochdruck, Rauchen und erhöhte Serumlipide, während die eGFR einen in etwa gleich starken Vorhersagewert hatte.

Sowohl ACR als auch eGFR waren als Einzelfaktoren prädiktiver als das hoch sensitiv gemessene CRP, besonders bei Patienten mit Hypertonie und mit Diabetes.

Strittige Fragen beantwortet

In einem begleitenden Editorial betonen Dr. Alberto Ortiz und Beatriz Fernandez-Fernandez von der Abteilung für Nephrologie und Hypertensiologie der Universität Madrid, dass diese Metaanalyse einige bisher strittige Fragen beantworte (Lancet Diabetes Endocrinol 2015; 28. Mai).

So könne jetzt als unstrittig gelten, dass renale Parameter die kardiovaskuläre Risikoabschätzung zumindest im Hinblick auf Mortalität und Herzinsuffizienz verbessern.

Sie plädieren deswegen dafür, dass Ärzte insbesondere bei Patienten mit noch normaler eGFR den aussagekräftigeren Parameter ACR häufiger nutzen, um etwas über den Zustand der Nieren und damit das kardiovaskuläre Risiko zu erfahren.

Eine generelle Abänderung existierender Risikomodelle halten die beiden Kommentatoren dagegen erst dann für sinnvoll, wenn auf Basis prospektiver Studien gezeigt werden kann, dass Patienten mit hoher ACR von früheren oder neuen therapeutischen Interventionen profitieren.

Und um solche, über die traditionelle Risikofaktortherapie hinausgehende Interventionen zu entwerfen, müsse zunächst besser verstanden werden, wie genau eine kaputte Niere zur kardiovaskulären Risikoerhöhung beiträgt. Das sei bisher nämlich noch unklar.

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