HINTERGRUND

Wie viele Tschernobyl-Opfer gibt es bis heute - 50 oder 100 000?

Von Sabine Teller Veröffentlicht:

Zum 20. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gibt es Streit über die Dimension der Strahlenschäden. Ärzteverbände und Umweltschutzgruppen werfen der Internationalen Atomenergie-Behörde IAEO Lüge und Vertuschung vor.

Rückblick: Es war am 26. April 1986, einem Samstag, um ein Uhr, 23 Minuten, 40 Sekunden. Block vier des Atomkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine (damals Sowjetunion) explodierte. 180 000 Kilogramm hochradioaktives Material entwichen ins Freie, die Strahlung übertraf die der Bomben von Hiroshima und Nagasaki um ein Hundertfaches.

20 Jahre nach der Katastrophe kommt die Weltgesundheitsorganisation in Zusammenarbeit mit der Internationalen Atomenergie-Behörde IAEO zu dem Schluß, daß bis heute 50 Menschen an akuter Verstrahlung durch das Unglück gestorben seien. Laut Tschernobyl-Folgestudie seien etwa 4000 Menschen infolge der Strahlenfreisetzung an Krebs und Leukämie erkrankt.

Für viele Ärzteverbände, Umweltschutzgruppen und Nichtregierungsorganisationen sind diese Zahlen blanker Hohn. "Da wird gelogen, daß sich die Balken biegen", sagt Sebastian Pflugbeil von der Gesellschaft für Strahlenschutz. Genauso wie er halten auch die Internationalen Ärzte für die Verhütung eines Atomkriegs (IPPNW) die Zahlen der IAEO für "absurd" und die Folgen der Tschernobylkatastrophe für weitaus verheerender als offiziell benannt.

In einer Gegenstudie, die Anfang dieses Monats in Berlin vorgestellt worden ist, sprechen die Wissenschaftler von 50 000 bis 100 000 gestorbenen Aufräumarbeitern, sogenannten Liquidatoren. Mehrere hunderttausend Katastrophenhelfer seien invalide. Darüber hinaus sei die Zahl der Schilddrüsenkrebserkrankungen erheblich gestiegen. Allein im weißrussischen Gebiet um Gomel müßten mehr als 50 000 Kinder mit dieser Erkrankung rechnen.

Die Gesundheitsschäden sind nach Angaben der Ärzte weitaus umfangreicher. Frauen litten bereits in frühen Jahren an Brustkrebs, Kinder an Tumoren des Zentralnervensystems. Auch sei die Säuglingssterblichkeit nach Tschernobyl europaweit gestiegen; in Deutschland, Griechenland, Schottland und Rumänien habe es einen signifikanten Anstieg von Leukämieerkrankungen gegeben.

Sebastian Pflugbeil räumt ein, daß seine Angaben nur auf Literaturrecherchen basieren. Die Erhebung von Daten sei durch die Geheimhaltung oder Nichterfassung russischer, aber auch westeuropäischer Behörden kaum möglich. Zudem könnten Strahlenschäden am Einzelfall nur schwer in Ursache und Wirkung nachgewiesen werden.

Dennoch sieht der gelernte Physiker in dem Konflikt mit der IAEO mehr als einen Methodenstreit. "Die Untersuchung der Atomenergie-Behörde ist eine wissenschaftliche Sauerei", sagt der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz. Die WHO habe in einem Zwischenbericht bereits selbst von zu erwartenden 8930 Toten gesprochen und sich dabei auf Quellen bezogen, bei denen von 10 000 bis 25 000 Toten die Rede ist.

Die IAEO habe dies als federführende Behörde aber in ihrem Interesse nach unten korrigiert. "Laut Satzung ist es Auftrag der Behörde, die friedliche Nutzung von Kernenergie zu fördern", sagt Pflugbeil und hält die Institution für gänzlich ungeeignet, eine unabhängige Untersuchung vorzunehmen. Pflugbeil: "Käme ihre Auswertung zu einem anderen Ergebnis, hätte das finanzielle Folgen für den westlichen Katastrophenschutz."

So sehen das auch die Grünen im Bundestag, im EU-Parlament und bei der Heinrich-Böll-Stiftung. Angesichts aktueller Bemühungen um den Wiedereinstieg in die Kernenergie wollen sie Tschernobyl energiepolitisch diskutieren. Unter dem Titel "Erinnern für die Zukunft" haben sie deshalb für Ende April zu einer Tschernobyl-Konferenz nach Kiew eingeladen.



Einzelheiten der IPPNW-Studie:

Die Gesellschaft für Strahlenschutz und die IPPNW kommen in ihrer Studie "Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl - 20 Jahre nach der Reaktorkatastrophe" zu folgenden Ergebnissen:

  • Bis zu diesem Jahr sind 50 000 bis 100 000 Liquidatoren (Aufräumarbeiter) gestorben. Zwischen 540 000 und 900 000 Liquidatoren sind Invaliden.
  • Die Säuglingssterblichkeit hat in mehreren europäischen Ländern - darunter auch in Deutschland - nach Tschernobyl zugenommen. Die vorliegenden Studien ergeben für Europa etwa 5000 Todesfälle unter Säuglingen.
  • Allein in Bayern kam es nach Tschernobyl zu 1000 bis 3000 zusätzlichen Fehlbildungen.
  • In der Tschernobyl-Region sind in Folge des Reaktorunglücks etwa 12 000 bis 83 000 Kinder mit genetischen Schäden auf die Welt gekommen, weltweit sind es zwischen 30 000 und 207 000.
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