Landgericht Berlin

15 Patienten ermordet? Berliner Palliativarzt schweigt zum Prozessauftakt

Ein Palliativarzt steht im Verdacht, in Berlin Patienten getötet zu haben. Wegen 15 Fällen sitzt er nun vor Gericht. Doch es könnte deutlich mehr Opfer geben.

Von Anne Baum und Marion van der Kraat Veröffentlicht:
Die Rechtsanwälte des Angeklagten stehen beim Mordprozess gegen einen Palliativarzt, der in Berlin 15 Menschen getötet haben soll, im Landgericht Berlin.

Die Rechtsanwälte des Angeklagten stehen beim Mordprozess gegen einen Palliativarzt, der in Berlin 15 Menschen getötet haben soll, im Landgericht Berlin.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Berlin. Er soll sich als Herr über Leben und Tod geriert haben: Fast ein Jahr nach seiner Verhaftung steht der Palliativarzt in Berlin wegen 15-fachen Mordes vor Gericht. In schwarzem Sakko und weiß-gemustertem Hemd sitzt er im Saal 700 hinter seinen drei Verteidigern. Aufmerksam, äußerlich regungslos verfolgt er, wie Staatsanwalt Philipp Meyhöfer die Anklage mit perfiden Details verliest, ab und an blickt er während der rund 20 Minuten auf. Zu den Vorwürfen schweigt der 40-Jährige mit den dunkelblonden, kurzen Locken.

„Unser Mandant wird zunächst keine Erklärung abgeben“, sagte Verteidiger Christoph Stoll in dem voll besetzten Saal. Der Prozess vor dem Landgericht Berlin gegen den deutschen Arzt begann unter großem Medien- und Publikumsandrang.

Tränen bei Mutter des jüngsten Opfers

13 Angehörige von Gestorbenen sind nach Gerichtsangaben bislang als Nebenkläger vertreten. Drei von ihnen sind persönlich erschienen. Die Mutter des jüngsten Opfers aus Guinea verfolgte unter Tränen den Verfahrensauftakt.

„Geliebte Angehörige sind zu Tode gekommen. Das wollen sie hier verhandelt wissen“, sagte einer der Nebenkläger-Anwälte. Die Angehörigen seien teils traumatisiert. Es bestehe großer Aufklärungsbedarf.

Die Staatsanwaltschaft Berlin wirft dem promovierten Mediziner Mord aus Heimtücke und sonstigen niedrigen Beweggründen vor. Sie hat zunächst in 15 Fällen Anklage erhoben. Parallel laufen jedoch die Ermittlungen weiter. Aktuell gibt es noch 71 Fälle, in denen ein Anfangsverdacht besteht. Auch der Tod der krebskranken Schwiegermutter des Arztes gehört dazu, wie Sprecher Sebastian Büchner sagte.

Staatsanwaltschaft überprüft noch 71 Fälle

Insgesamt hat die für den Fall eingerichtete Ermittlungsgruppe Hunderte Unterlagen von Patienten des Mediziners ausgewertet. Bislang wurde in 15 Fällen veranlasst, dass Leichen ausgegraben und rechtsmedizinisch untersucht wurden. In einem Fall stehe solch eine Exhumierung noch aus, so Büchner.

Vor Gericht geht es zunächst um 15 Todesfälle im Zeitraum von September 2021 bis Juli 2024. Als bislang erstes und jüngstes Opfer nennt die 255-seitige Anklage eine 25-Jährige, als ältestes eine 87 Jahre alte Frau.

„Unter Missachtung des Lebens- und Selbstbestimmungsrechtes“ seiner Patientinnen und Patienten und um eigensüchtig seine „eigenen Vorstellungen vom Sterben und Zeitpunkt des Lebensendes“ dieser zu verwirklichen, soll der Palliativmediziner 12 Frauen und 3 Männern ohne „medizinische Indikation und ohne deren Wissen und Zustimmung“ jeweils ein tödliches Gemisch aus Narkoseeinleitungs- und Beruhigungsmittel verabreicht haben.

Arzt soll seine Vertrauensstellung ausgenutzt haben

Der Arzt soll die Taten im Rahmen seiner Tätigkeit für zwei Pflegedienste in Berlin begangen haben. Palliativärzte begleiten schwerstkranke Menschen, um deren Schmerzen zu lindern. Diese Vertrauensstellung soll der verheiratete Vater eines Kindes ausgenutzt haben. Teils unangekündigt suchte er die Betroffenen auf, meist waren die Patienten allein, so die Staatsanwaltschaft.

In einigen Fällen legte der Mediziner laut Ermittlungen Brände, um die Taten zu vertuschen. Die Polizei ermittelte in den Fällen zunächst wegen Brandstiftung mit Todesfolge – dabei geriet der Arzt zunehmend in den Fokus. Dazu beigetragen haben laut Staatsanwaltschaft auch Hinweise der Pflegedienste, für den der Beschuldigte gearbeitet hatte.

Die Fälle, bei denen Brände gelegt wurden, sollen laut der Vorsitzenden Richterin Sylvia Busch nun als Erstes im Prozess, der am 23. Juli fortgesetzt wird, beleuchtet werden. Bei der Obduktion der Leichen wurde Angaben zufolge festgestellt, dass die Toten nicht infolge des Brandes gestorben waren.

Durch Brände in den Fokus geraten

Die Anklage nennt teils perfide Details zum Vorgehen des Arztes, der seit Anfang August 2024 in Haft sitzt: Am 5. September 2022 soll er einer körperlich geschwächten 56-Jährigen in ihrer Wohnung ohne medizinischen Anlass ein Narkosemittel und ein Muskelrelaxans verabreicht haben. Aus Sorge vor Entdeckung habe er dann aber einen Notruf abgesetzt und wahrheitswidrig angegeben, die Frau in einem „reanimationspflichtigen Zustand“ angetroffen zu haben, so die Anklage. Rettungskräfte konnten die Frau reanimieren und brachten sie ins Krankenhaus.

„In Fortführung seines Tatplans und im Wissen um die Patientenverfügung der Geschädigten“, wonach die Frau keine lebensverlängernden Maßnahmen wünscht, soll der Mediziner die Tochter der 56-Jährigen angerufen und sich für den Verstoß gegen diese Verfügung entschuldigt haben. Mit Zustimmung beider Töchter wurde schließlich die künstliche Beatmung eingestellt – die Frau starb am 8. September 2022 im Krankenhaus in Neukölln.

Das Gericht hat für den Prozess zunächst 35 Verhandlungstermine bis zum 28. Januar 2026 geplant. Zu jedem Fall gibt es mehrere Zeugen, insgesamt könnten rund 150 Menschen vor Gericht gehört werden.

Einer der größten Fälle bundesweit?

Die Staatsanwaltschaft strebt gegen den 40-Jährigen neben einer Verurteilung die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld und eine anschließende Sicherungsverwahrung an. Außerdem soll der Arzt ein lebenslanges Berufsverbot bekommen.

Bestätigen sich die Vorwürfe, könnte der Fall einer der größten bundesweit sein. Bislang gilt eine Mordserie in Niedersachsen als die wohl größte der deutschen Nachkriegsgeschichte: Ex-Pfleger Niels Högel wurde 2019 wegen 85 Morden zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Motiv für die Taten blieb unklar. Es sei ihm um die „Gier nach Spannung“ gegangen, so das Gericht damals. Zuvor war Högel bereits wegen weiterer Morde verurteilt worden. (dpa)

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Bundesrat

Bayern wirbt für Abschaffung des „begleiteten Trinkens“

Das könnte Sie auch interessieren
Glasglobus und Stethoskop, eingebettet in grünes Laub, als Symbol für Umweltgesundheit und ökologisch-medizinisches Bewusstsein

© AspctStyle / Generiert mit KI / stock.adobe.com

Klimawandel und Gesundheitswesen

Klimaschutz und Gesundheit: Herausforderungen und Lösungen

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein MRT verbraucht viel Energie, auch die Datenspeicherung ist energieintensiv.

© Marijan Murat / dpa / picture alliance

Klimawandel und Gesundheitswesen

Forderungen nach Verhaltensänderungen und Verhältnisprävention

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

© Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen e. V.

Das Frankfurter Forum stellt sich vor

Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Kommentare
Sonderberichte zum Thema
Detailansicht eines Windrades: Bringt eine ökologisch nachhaltige Geldanlage auch gute Rendite? Anleger sollten auf jeden Fall genau hinschauen.

© Himmelssturm / stock.adobe.com

Verantwortungsbewusstes Investment

„Nachhaltig – das heißt nicht, weniger Rendite bei der Geldanlage!“

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: der Deutschen Apotheker- und Ärztebank (apoBank)
Carl Billmann, Leiter der Stabsstelle IT, Marketing & Kommunikation bei BillmaMED, Medizinstudent mit dem Berufsziel Dermatologe.

© Doctolib

Interview

„Am Empfang haben wir Stress rausgenommen“

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Doctolib GmbH
Die Patientin tippt ihre Nachricht ins Smartphone, das Praxisteam antwortet direkt über
den Desktop. So sind Vereinbarungen über ein E-Rezept oder eine Befundmitteilung vom Facharzt schnell übermittelt.

© [M] Springer Medizin Verlag | Foto: A_B_C / stock.adobe .com

Digitale Patientenkommunikation

„Das Potenzial für die Zeitersparnis ist riesig“

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Doctolib GmbH
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Neues Verfahren mit Potenzial

Das bringt die elektronische Ersatzbescheinigung den Praxen

Prävention vor HIV

WHO empfiehlt Lenacapavir zur HIV-PrEP

Lesetipps
IgA-Mangel: Wie gegen Meningokokken impfen?

© Porträt: privat | Spritze: Fied

Sie fragen – Experten antworten

IgA-Mangel: Wie gegen Meningokokken impfen?

Die Ärzte Zeitung hat jetzt auch einen WhatsApp-Kanal.

© prima91 / stock.adobe.com

News per Messenger

Neu: WhatsApp-Kanal der Ärzte Zeitung