1997: Ärzte ins Individual-Korsett gezwungen

Schluss mit lustig: Mit individuellen Praxisbudgets und Regional-HVM versuchen KBV und KVen, das Hamsterrad und den Honorarklau zu stoppen.

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Köln, im Juni 1997. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Kassenärztlichen Vereinigungen ziehen die Reißleine.

Mit dem Start eines neuen Einheitlichen Bewertungsmaßstabes zum Jahresbeginn 1997 waren die Leistungsmengen in Form abgerechneter Punktzahlen um 30 bis 40 Prozent gestiegen - in nahezu gleichem Ausmaß stürzten die Punktwerte ab.

Rund ein Drittel der Mengenexpansion ging auf die neu geschaffenen hochwertigen Beratungs- und Betreuungsleistungen zurück, die nach ursprünglichen Plänen der KBV nur von Hausärzten abgerechnet werden sollten, auf Druck der Facharztverbände schließlich allen Arztgruppen ermöglicht wurden.

Ärzte in der Rationalitätenfalle

Blauäugigkeit und Nachgiebigkeit der KBV-Führung, insbesondere des Vorsitzenden Dr. Winfried Schorre, gegenüber den Partikularinteressen hatten dazu geführt, dass sich die Ärzte selbst in die Rationalitätenfalle manövriert hatten: Der neue EBM setzte starke Anreize, das Hamsterrad in Schwung zu bringen.

Aber auch exogene, von der KBV und den Ärzten nicht zu vertretende Gründe hatten das Honorardilemma verursacht.

In den beiden Boomjahren nach der Wiedervereinigung waren in nicht gerechtfertigtem Optimismus Honorarsteigerungen vereinbart worden, die mit der Budgetierung durch Horst Seehofer ab 1993 gekappt wurden.

Seitdem entwickelte sich das Gesamthonorar parallel zu der nur noch kärglich wachsenden Grundlohnsumme.

Dieses Gesamthonorar musste unter viel mehr Ärzten aufgeteilt werden, weil die neuen Zulassungsregeln zunächst zu einem Run in die Niederlassung geführt hatten: 10.000 Vertragsärzte zusätzlich.

Unter dem Budget begannen die Ärzte, sich gegenseitig die zu kurz gewordene Decke wegzuziehen: der Hamsterradeffekt kam in Gang.

Weil jeder jedem unterstellte, er ginge in die Leistungsmenge, konnte nur derjenige gewinnen, der als Erster Tempo machte.

Umverteilung unter Fachgruppen begrenzt

Schon nach einem Quartal Erfahrung mit dem neuen EBM mussten die KBV und die KVen hart intervenieren. Die Punktwerte drohten um teilweise bis zu 50 Prozent zu sinken - Praxen und Fachgruppen mit hohen Kostensätzen und begrenzten Möglichkeiten zu Mengenausweitung waren in ernster Gefahr.

Für 14 Arztgruppen und 70 Prozent der Leistungen wurden praxisindividuelle Budgets vorgegeben.

Die KVen begrenzten durch Honorarverteilungsmaßstäbe (Fachgruppentöpfe und Interventionspunktwerte) die Umverteilung unter den Fachgruppen.

Es war eine interventionistische Nacht- und Nebelaktion der ärztlichen Selbstverwaltung. Die musste der Basis erklärt werden: In drei Supplements der "Ärzte Zeitung", in Tag- und Nachtarbeit von Redakteuren der Ressorts Gesundheitspolitik und Wirtschaft sowie den Regionalkorrespondenten und nicht zuletzt der Grafiker geschrieben und gestaltet, wurden alle Vertragsärzte mit den neuen "Folterinstrumenten" vertraut gemacht.

Mit den Grundprinzipien der Praxisbudgets sowie mit den KV-individuellen HVMs, die alle grafisch dargestellt wurden.

Wie wichtig es war, den Punktwert zu stabilisieren, begründete die Ärzte Zeitung damals so: "Ein kaputter Preis bleibt aller Erfahrung nach kaputt." Die heutige Realität ist: Der vereinbarte Orientierungspunktwert ist 3,5 Cent - nicht aber 5,1 Cent. (HL)

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