6200 Müttern half sie bei der Geburt - einigen mit "gedoppeltem Handgriff"

Von Klaus Brath Veröffentlicht:

Das medizinische Fachgebiet Geburtshilfe galt bis weit in das 17. Jahrhundert hinein als reine Frauensache. Weibliches Wissen um Techniken und Schwierigkeiten bei der Geburt wurde mündlich oder handlungspraktisch weitergegeben.

Das erste von einer deutschen Hebamme geschriebene Hebammen-Lehrbuch stammt von der "Chur-Brandenburgischen Hof-WeheMutter" Justine Siegemundin. Es diente fast ein Jahrhundert lang deutschsprachigen Wehemüttern und Ärzten als fundierte praktische Beratung und wissenschaftliche Inspiration. Heute jährt sich der Todestag der berühmten Hebamme zum 300. Mal.

Justine Siegemundin, geborene Dittrich, auch Justina Sieg(e)mund genannt, wurde am 26. Dezember 1636 als Tochter eines lutherischen Pfarrers im niederschlesischen Rohnstock geboren. Die möglichen Schattenseiten ihres künftigen Berufes lernte sie zunächst bei einer eigenen falsch diagnostizierten Scheinschwangerschaft kennen. Vier Hebammen sollen fälschlicherweise tagelang versucht haben, die damals 21jährige gebären zu lassen.

Durch dieses Ereignis geburtshilflich interessiert und mit Hilfe von Büchern autodidaktisch weitergebildet, sammelte Siegemundin einige Jahre bei armen Bauern geburtshilfliche Erfahrungen und erwarb sich danach in Liegnitz als "städtische Wehemutter" einen ausgezeichneten Ruf.

Zunehmend wurden ihre Dienste in gesellschaftlich höherstehenden Kreisen angefordert. 1683 berief der brandenburgische Große Kurfürst Friedrich Wilhelm Siegemundin an seinen Hof in Berlin, wo sie auch unter dem ersten Preußenkönig Friedrich I. als hochdotierte Wehemutter arbeitete.

Bleibende Bedeutung erlangte sie auch durch ihr 1690 zu Cölln an der Spree erschienenes, bereits 1691 ins Niederländische übertragene und bis 1756 immer wieder neu aufgelegte Hebammen-Anleitungsbuch. Prominente Fürsprecher wie Maria von Oranien, die spätere Königin von England, hatten Siegemundin dazu ermuntert, ihre langjährigen Aufzeichnungen zu publizieren.

Bevor sie das Werk schließlich in Druck gab, legte sie es drei Hofpredigern und der medizinischen Fakultät der Universität Frankfurt an der Oder zur Begutachtung vor.

Trotz gewisser Schwächen im anatomischen Bereich gehört das besonders auf Früherkennung und Kontrolle anormal verlaufender Geburten fokussierende Buch zu den Kostbarkeiten in der Geschichte der Geburtshilfe.

Es ist illustriert mit 40 ganzseitigen Abbildungen, die vermutlich nach eigenhändigen Zeichnungen der Autorin gestochen wurden. Originell ist auch, daß das Buch in Rede und Antwort geschrieben wurde, als Gespräch zwischen einer älteren Wehemutter und ihrer Schülerin. Den Abschluß des Buches bildet ein Repetitorium.

Siegemundin war eine der ersten, die der Stellung des Hinterhauptes bei der Geburt eingehendere Beachtung schenkte. Sie kannte auch den spontanen Ablauf von Steiß- und Gesichtsgeburten, falls die Kinder nicht zu groß sind.

"Klassisch" wurde ihr "gedoppelter Handgriff", der zur Anwendung kam, wenn das Kind quer oder schräg lag und die Fruchtblase gesprungen war. Dabei wurde das Kind durch innere Handgriffe mit Hilfe eines Stöckchens und von Bandschlingen so gedreht, daß es mit den Füßen zuerst geboren werden konnte.

Die Ratschläge der gottesfürchtigen Hebamme, die laut Leichenpredigt im Laufe ihres Lebens 6199 registrierte Geburten - 20 davon waren fürstlicher Abstammung - vornahm, stießen auf beträchtliche Resonanz. Nicht immer jedoch, so zeigt eine volkskundliche Studie von Waltraud Pulz, wurde mit ihrem reichhaltigen Erfahrungswissen fair umgegangen.

1685 kam es zum Erlaß der ersten Medizinalordnung in Brandenburg, durch die unter anderem eine Examinierung der Hebammen durch Ärzte eingeführt wurde. Siegemundin mußte sich danach mehrmals Angriffen der "medici", aber auch konkurrierender Hebammen, erwehren.

Auch wurden ihre Kupferstiche und die von ihr dargestellten Handgriffe nach ihrem Tod von bekannten und unbekannten Autoren teils einfach übernommen und als Errungenschaften der Chirurgie präsentiert - manchmal, ohne ihr Werk überhaupt zu nennen.

Ihr Vermächtnis formulierte Siegemundis in der Vorrede ihres Buches: "...dies Buch, das lange wie in einer Geburt gesteckt, ... soll, weil ich keine Kinder zur Welt geboren, das seyn, was ich der Welt hinterlasse."

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