Vor 70 Jahren

Als Pius XII. das vatikanische Roulette erfand

Verhütung war in der katholischen Sexualmoral nicht vorgesehen. Bis Papst Pius XII. eine kleine Ausweichoption anbot.

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Papst Pius XII. in seinem Arbeitszimmer an der Schreibmaschine.

Papst Pius XII. in seinem Arbeitszimmer an der Schreibmaschine.

© LaPresse / dpa / picture-alliance

Rom. Vor 70 Jahren, am 29. Oktober 1951, hielt Papst Pius XII. eine Ansprache vor dem katholischen Hebammenverband Italiens, bei der er katholischen Ehepaaren eine kleine Tür in der Sexualmoral öffnete. Jahre zuvor hatte Papst Pius XI. 1930 in seiner Enzyklika „Casti connubii“ Sinn und Zweck der christlichen Ehe einzig darin beschrieben, Nachkommen zu zeugen – Verhütung war verboten.

Vor 70 Jahren nun erlaubte Pius XII., dass „die Einhaltung der unfruchtbaren Zeiten“ bei einer gewissen „medizinischen, eugenischen, wirtschaftlichen und sozialen Indikation“ sittlich erlaubt sei.

Einzige Form der Familienplanung

Diese Form der natürlichen Verhütung wird umgangssprachlich auch als „Vatikanisches Roulette“ bezeichnet und ist bis heute die einzig erlaubte Form der Familienplanung für Katholiken. In seiner Ansprache betonte der Papst noch einmal das Verbot der Abtreibung und stellte damit klar, dass bei Problemen in der Schwangerschaft oder bei der Geburt das Leben des Kindes über dem der Mutter stehe.

Die Ansprache von 1951 war nach „Casti connubii“ die umfassendste päpstliche Äußerung zur Ehe- und Sexualmoral, sagt der Münsteraner Historiker Matthias Daufratshofer. Ob sich die Menschen an die römischen Vorgaben hielten, wurde im Beichtstuhl abgefragt. Wer war dafür verantwortlich? Der Aachener Jesuit Franz Hürth (1880-1963) war nach den jüngst veröffentlichten Forschungen von Daufratshofer „der eigentliche Konstrukteur dieser kontinuierlichen Wiederholung und Neueinschärfung der rigiden Ehe- und Sexualmoral“, die über Jahrzehnte bis in die Schlafzimmer der katholischen Ehepaare wirksam war.

Ghostwriter für die Päpste

Der Jesuit war unter den Päpsten Pius XI. und Pius XII. der „Holy Ghostwriter“ in allen moraltheologischen Fragen, die Ehe und Sexualität betrafen. Für Papst Pius XI. entwarf er auch die Ehe-Enzyklika „Casti connubii“ und sorgte sogar noch dafür, dass die zaghaften Vorüberlegungen des Papstes im Hinblick auf die gegenseitige Hinwendung der Eheleute – umgangssprachlich auch als Liebe bezeichnet – weiter dem Zeugen von Kindern untergeordnet blieb.

„Casti connubii“, erklärt Daufratshofer, „avancierte zur Magna Charta der katholischen Ehe- und Sexuallehre und sollte darüber hinaus eine der weitreichendsten Wirkungsgeschichte eines päpstlichen Rundschreibens überhaupt entwickeln“. In seiner Ansprache an den Hebammenverband 1951 bezog sich Pius XII. auf diese Enzyklika und rief das von seinem Vorgänger verkündete Verbot der Empfängnisverhütung in Erinnerung. Wieder war der Autor dieser Ansprache der Jesuit Hürth.

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„Aus der Frage nach der Verhütung war eine Frage nach dem Lehramt der Kirche geworden“, stellt Daufratshofer fest. Denn der Jesuit und Papst Pius XII. rückten die moraltheologischen Fragen, die Pius in seinen Ansprachen behandelte, ganz in die Nähe einer unfehlbaren lehramtlichen Äußerung. Das hatte für den Nachfolger, Papst Paul VI., enorme Nachwirkungen, als er darüber entscheiden musste, ob katholische Eheleute die Pille benutzen dürften.

Verbot der Pille durch Paul VI.

Wenn er diese neue Form der Familienplanung bejahte, stellte er die lehramtlichen Aussagen seiner beiden Vorgänger mit ihrem eindeutigen Verbot der Verhütung in Frage, erklärt Daufratshofer. Also entschied sich Paul VI., bei der lehramtlichen Linie seiner Vorgänger zu bleiben – schließlich konnten sie doch nicht irren – und verbot mit dem Lehrschreiben „Humanae vitae“ (1968) die Pille. Was als Bekräftigung des Lehramtes gedacht war, hatte genau den gegenteiligen Effekt.

Mit dem Tod von Papst Pius XII. im Jahr 1958 endete auch der enorme Einfluss des Jesuiten Hürth auf die katholische Ehelehre. Unter dem Eindruck des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) sind heute das Wohl der Eheleute und die generelle Offenheit für Kinder gleichgestellt. Und was die Verhütung angeht, so entscheiden Eheleute nach ihrem Gewissen. (KNA)

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