"Alterssex gilt als Störfaktor, weil die Jungen bestimmen, was Alten erlaubt ist"

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:

Der große Hörsaal "F" der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) war so voll wie lange nicht mehr, als Bernhard Behrends vom Fachbereich Gesundheit der Region Hannover das 13. Gesundheitsforum Hannover eröffnete. Offensichtlich hatten die Ärztekammer und die KV Niedersachsen, die Region Hannover und die MHH bei der Wahl ihres Themas voll ins Schwarze getroffen: "Sexualität (k)eine Frage des Alters".

"Es gibt keine Alterssexualität. Aber es gibt eine zweite Sprache der Sexualität". So faßte Professor Uwe Hartmann, Leiter des Arbeitsbereichs Klinische Psychologie an der MHH, die Erkenntnisse zur Sexualität im Alter zusammen. "Gelassenheit, Sinnlichkeit und Vertrauen, also die Qualität der Bindung, treten im Alter für das Gelingen der Sexualität mehr und mehr in den Vordergrund."

Etwa für der Hälfte aller Männer zwischen 60 und 80 Jahren und für 30 bis 37 Prozent aller Frauen ist Sexualität "wichtig", wie die internationale Pfizer Global Study "Sexual Attitudes & Behavior" ergab. Allerdings geht es Frauen eher um die Beziehungsqualität und den Männern um die Sexualität selber, präzisierte Hartmann.

Sexualität alter Menschen ist tabu

Die öffentliche Wahrnehmung steht solch positiver Definition der Sexualität alter Menschen allerdings entgegen. So sehr Sexualität allerorten dargestellt werde, so sehr gelte die Sexualität der Alten als Tabu. "Das sexuelle Verhalten der Älteren ist liberaler, als die Gesellschaft erlaubt", betonte Hartmann, "Alterssex gilt gemeinhin als Störfaktor, weil die Jüngeren bestimmen, was den Alten erlaubt ist."

Seine Studenten könnten sich gar nicht vorstellen, daß ihre Eltern noch miteinander schlafen, hatte zuvor schon der Urologe Walter Thon vom Siloah-Krankenhaus in Hannover berichtet. Dabei seien die jungen Menschen mit ihrer eigenen Sexualität keineswegs glücklicher oder entspannter als ihre Eltern und Großeltern. Die Jungen hätten nur weniger körperliche Einschränkungen hinzunehmen.

    Jeder zweite Mann zwischen 70 und 80 leidet an Impotenz.
   

Bei älteren Frauen können die Wechseljahre, die Entfernung der Gebärmutter, Harninkontinenz, Diabetes, Brust-OPs oder schlicht das Fehlen eines Partners im Alter zum Problem für die gelebte Sexualität werden, erläuterte die niedergelassene Gynäkologin Ricarda Niedergerke aus Hannover. Muskeltraining, Gleitgel oder Hormongaben könnten einige Beschwerden lindern oder gar beseitigen; die Einsamkeit indessen nicht. "Aber kürzlich hatte ich eine glückliche, hochbetagte Patientin in meiner Praxis", berichtete Niedergerke, "sie ist frisch verliebt und praktiziert eine lebendige Sexualität."

Bei älteren Männern steht die Impotenz als Hindernis erfüllter Sexualität im Vordergrund. Etwa die Hälfte aller 70- bis 80jährigen Männer leiden unter Impotenz, erläuterte Walter Thon. Bluthochdruck, Diabetes, Psychopharmaka, Diuretika, Übergewicht, Alkohol und Tabak verschärften das Problem. "Viagra und ähnliche Medikamente haben aber viel von der Diagnostik der Impotenz in den Hintergrund gedrängt", sagte Thon. Weil die Sexualität der Männer nicht auf Potenz beschränkt werden kann, empfiehlt Thon bei der Therapie erektiler Dysfunktion stets eine begleitenden Psychotherapie.

Gewiß gebe es viele Möglichkeiten, medizinisch einzugreifen, räumte Uwe Hartmann ein. Wesentlich für die "zweite Sprache der Sexualität" sei jedoch die Reife der Beziehung. Gegen das Schwinden der Attraktivität, der genitalen Reaktionen, der Spontaneität und der Lust selber müssen und können die Partner neue Ressourcen mobilisieren, so Hartmann: Viel Zeit für einander nehmen, die synchrone sexuelle Erregung pflegen, Vertrauen geben und gewähren und der Lust mit Kreativität und Entschlossenheit auf die Sprünge helfen. Lust, Intimität und Bindung müßten gleichermaßen gepflegt werden. "Eine Beziehung, in die man nicht investiert, wird von selber schlecht", sagte Hartmann.

Ehe und Beziehung als "verkehrsberuhigte Zonen"

Er weiß aber auch, daß sein Bild weit entfernt ist von der Realität. Viele Ehen und Beziehungen seien schon lange "verkehrsberuhigte Zonen", so Hartmann, und die Kommunikation der Partner über persönliche Themen beschränke sich laut einer Untersuchung des Bundessozialministeriums auf ganze vier Minuten am Tag. Den großen Problemen stehen viel zu wenige Sexualtherapeuten gegenüber.

Eine von ihnen, Elisabeth Drimalla, niedergelassene Allgemeinärztin und Psychotherapeutin aus Hannover, machte den vielen älteren Menschen im Hörsaal "F" Mut. "Amor ist mit einer Waffe ausgestattet", so Drimalla, "scheinbare Harmonie tötet die Sexualität."

Wer sein Liebesleben beleben wolle, so Drimalla, brauche auch Mut zum Risiko und zum Überwinden der Scheu, wenn es um intime Wünsche geht. Auch Mut, um die Intensität des Gefühls zu erleben, und Mut, das Begehren zuzulassen. "Zu all dem ist eine gewisse Reife nötig", sagte Elisabeth Drimalla unter dem Gelächter der Zuhörer, "zwischen Cellulitis und leidenschaftlichem Sex besteht ein enger statistischer Zusammenhang."

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