In Bremer Schule

Baby Ole lehrt Mitgefühl

Ein Lehrer, der über eine Krabbeldecke robbt: Durch Säugling Ole sollen Bremer Schüler lernen, fürsorglich miteinander umzugehen.

Von Eckhard Stengel Veröffentlicht:
Mit Baby Ole will Trainer Steffen Gentsch (l.) den Schülern der 5b einer Bremer Oberschule Mitgefühl vermitteln.

Mit Baby Ole will Trainer Steffen Gentsch (l.) den Schülern der 5b einer Bremer Oberschule Mitgefühl vermitteln.

© Stengel

BREMEN. Kein gutes Vorbild, dieser Lehrer! Kommt einfach zu spät in die Klasse - weil er verschlafen hat. Aber Ole darf das.

Er ist erst sieben Monate alt und soll an diesem Vormittag an einer Oberschule in Bremen-Nord den Kindern der 5b Einfühlungsvermögen und Achtsamkeit beibringen. Wenn er auf dem Weg im Autositz einschläft, beginnt die Stunde eben später.

Geduldig warten die 20 Fünftklässler aus aller Welt minutenlang auf Ole. Viele von ihnen stammen aus schwierigen Verhältnissen. Jetzt sitzen sie brav um eine große grüne Decke, die sie nicht betreten dürfen: Oles Revier.

Seit Herbst 2012 besucht das Baby etwa einmal im Monat mit seiner Mutter und einem "Trainer" die Klasse, weil diese beim internationalen Projekt "Roots of Empathy" ("Wurzeln des Einfühlungsvermögens") mitmacht. Deutschland ist der zehnte Staat, der sich daran beteiligt: mit neun Klassen an drei Bremer Oberschulen - und neun Babys.

"Ole kommt", ruft Empathie-Trainer Steffen Gentsch, als Mutter Stephanie F. (35), ihren Säugling in den Klassenraum trägt. Ole trägt ein weißes T-Shirt: "Teacher". Alle Kinder erheben sich wie für einen Staatsgastund singen: "Hallo, lieber Ole, wie geht es Dir?".

Die Mutter schreitet mit dem Baby die Runde ab, jedes Kind fasst ihm zur Begrüßung an die Füße und strahlt. Ole lacht, streckt manchmal auch den Arm aus.

"Meilensteine" und Sicherheit

Mutter, Kind und Trainer setzen sich ans Kopfende der Decke. "Wie geht es Ole?", fragt Gentsch. Fast alle Schüler melden sich. "Aufgeregt", antwortet ein Junge, "Ole ist fröhlich", sagt ein anderer. Meistens aber staunt das Baby oder wirkt unbeeindruckt.

Ein Thema heute: "Meilensteine". Welche Entwicklungsschritte hat das Baby seit letztem Monat gemacht? "Er hat sich die ganze Zeit bewegt", hat ein Mädchen beobachtet.

"Er hat gerülpst", ist einem Jungen aufgefallen. Ein anderer korrigiert ihn: "In seinem Alter nennt man das Bäuerchen, und das ist gesund für ihn."

Nächstes Thema: Sicherheit. In der Vorbereitungsstunde, die jedem Baby-Besuch vorausgeht und durch eine Nachbereitung ergänzt wird, hat die Klasse über Gefahren in der Wohnung nachgedacht. "Ist Ole schon mal runtergefallen?", will ein Kind jetzt wissen. "Nein", antwortet die Mutter lächelnd.

Zwischendurch darf der Kleine auf der flauschigen Decke krabbeln, bekommt von den Kindern eine Tasche mit Spielzeug hingehalten oder wird mit weiteren Liedern bespaßt. Nach einer halben Stunde: leichtes Quengeln.

"Worauf deutet das hin?", will Gentsch wissen. "Ihm wird das hier ein bisschen zu viel", antwortet ein Junge.

Ein Mädchen dagegen meint: "Er ist traurig, weil die Stunde zu Ende ist." Nur noch eine Abschiedsrunde mit Füßeschütteln und Gesang: "Bis bald, lieber Ole, auf Wiedersehen!"

Anspruchsvolle Ziele

Wenn Ole verstünde, was mit ihm geschieht, würde er sich vielleicht wie im Zoo fühlen. Aber seine Mutter, selbst Lehrerin, meint: "Er findet das spannend. Wenn ich mit meinen Freundinnen Kaffee trinke, ist es für ihn anstrengender."

Die Idee zum Lernprogramm hatte die kanadische Erzieherin Mary Gordon. Seit 1996 verbreitet ihre inzwischen gemeinnützige Organisation das Programm in immer mehr Ländern. Sie sucht teils mit Annoncen nach passenden Eltern und bildet an den Teilnehmerschulen die Trainer aus.

So auch den Sonderpädagogen Gentsch: 639 Seiten Lehrplan in fünf Tagen. Die Kosten, 100.000 Euro für die neun Bremer Klassen, trägt die Hamburger "API Kinder- und Jugendstiftung".

Die Ziele sind anspruchsvoll: Indem die Schüler die Bedürfnisse des Babys kennenlernen und seine Beziehung zu Mutter oder Vater beobachten, sollen sie lernen, fürsorglicher und mitfühlender miteinander umzugehen.

Es gab auch Skeptiker

Funktioniert es? "Wir haben auf jeden Fall ein tolles Klima", sagt Klassenlehrer Sven Heidelberg. Oles Besuche seien dafür "ein wichtiger Baustein". Auch manche Schüler sagen nach der Babystunde, sie seien netter zueinander.

An der Schule gab es erst einige Skeptiker, erzählt Vize-Direktorin Rosemarie Lange. Aber nach dem ersten Halbjahr hat die Gesamtkonferenz einmütig beschlossen: Babystunden werden fester Bestandteil des Schulprogramms.

Im nächsten Schuljahr wollen sich drei weitere Bremer Schulen dem Projekt anschließen. Auch wenn die Lehrkräfte manchmal verschlafen.

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Kommentare
Dr. Birgit Bauer 08.04.201313:23 Uhr

Netter Einfall ? !

Aber was ist eine Gesellschaft wert, in der ganz normale Sozialisationsschritte, die unser tägliches Mitteinander ermöglichen sollen, darauf angewiesen ist Babys als "Schauobjekte" anderen Kindern im Unterricht vorzustellen ? Wie muß sich der kleine Ole fühlen? Ein Besuch der Kinder mit den eigenen Eltern auf dem Spielplatz um mit aneren Eltern und Kindern in Kontakt zu kommen wäre doch sicher für die Sozialentwicklung dienlicher .
Armes Deutschland, nicht etwa in finanzieller Hinsicht,am Geiste mangelt es immer mehr.Individualismus ,Egozentrik und Geldgier ist eben nicht alles im Leben.
M.f.G. B.Bauer

Dr. Sibylle Schünemann-Wurmthaler 05.04.201314:12 Uhr

Baby im Unterricht.

Ich finde den Ansatz, im Unterricht Emotioalität durch den Kontakt mit einem Baby zu fördern bzw. zu schulen, ausgezeichnet. Vielfach fehlt - aufgrund häufig gravierend veränderter Lebensbedingungen in heutigen Familien und der Umwelt- die Möglichkeit, die natürlichen, positiven emotionalen Erfahrungen, die ein "hilfloses"Lebewesen "normalerweise" im Menschen, auslöst auszubauen und zu festigen. Dass Kinder dies dringend zur Entwicklung ihrer eigenen Emotionalität benötigen, zeigt sich schon in dem sehr häufig geäußerten Wunsch nach einem Haustier.
Allerdings bedarf es einer psychologisch-pädagogisch gut durchdachten Einbettung in das Unterrichtsprogramm, denn bei schon fehlerhaft angebahnter emotionaler Entwicklung von Kindern könnte die Gefahr bestehen, mit dieser Art der Konfrontation auch negative, aggressionsfördernde Emotionen hervor zu rufen oder zu verstärken - berücksichtigt man nicht den individuellen psychologischen.
IErfahrungshintergrund der Schüler.
ch wünsche mir, dass der Ansatz "Schule" macht .

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