Buchtipp

Der lange Atem der braunen Ärztefunktionäre

Am Beispiel des Saarlandes hat die Zahnärztin und Autorin Gisela Tascher dokumentiert, wie sich Nazi-Ärzte in der Selbstverwaltung der Bundesrepublik etablierten.

Von Michael Kuderna Veröffentlicht:

Gisela Tascher: Staat, Macht und ärztliche Berufsausübung 1920 -1956. Gesundheitswesen und Politik: Das Beispiel Saarland. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 2010. 435 Seiten. 49,90 Euro.

Die Rolle der Ärzteschaft in der NS-Diktatur ist zwar kein Tabuthema mehr, aber die Aufarbeitung ist noch längst nicht beendet. Erst vor wenigen Wochen stellte die Bundesärztekammer eine neue Studie vor und erinnerte mit einer Gedenkveranstaltung an die Verbrechen früherer Kollegen.

Neben der Frage nach dem Ausmaß und den Gründen der Verstrickung von Ärzten gibt es aber noch weitere Fragen, die lange Zeit weitgehend ausgeblendet wurden: waren die Jahre des Nationalsozialismus ethisch, strukturell und personell so etwas wie ein einmaliger Betriebsunfall im deutschen Gesundheitswesen oder gab es Vorzeichen und Nachwehen?

Dazu gehört auch der Umgang mit Opfern und Tätern nach 1945 und die Geschichte der Vergangenheitsbewältigung durch die ärztlichen Organisationen selbst.

Erfahrungsgemäß bedarf es thematischer und regionaler Detailstudien, bevor die Herkulesarbeit einer Gesamtschau geleistet werden kann. Für das Saarland liegt dieser Baustein nun vor. Dabei wird manches Bekannte bestätigt, etwa der hohe Organisationsgrad der Ärzte in der NSDAP (laut Personalkartei der Reichsärztekammer waren in der Bezirksvereinigung Saar 76 Prozent Anwärter oder Mitglied).

Klar wird auch die Tiefe persönlicher Verstrickung nicht nur der besonders involvierten Amtsärzte, sondern auch ihrer niedergelassenen Kollegen. So lieferten ihre Meldungen von "Erbkranken" Material für die Anträge auf Zwangssterilisationen.

"Die Bedeutung des Arztes im NS-Regime ergab sich besonders aus seiner Machtposition im Rahmen der nationalsozialistischen Rassenideologie, über die Wertigkeit von Leben zu entscheiden", stellt die Autorin Gisela Tascher fest.

Eine Entnazifizierung hat es nicht gegeben

Über die Untersuchung dieses Zeitabschnittes hinaus fördert das voluminöse Buch der promovierten Zahnärztin aber auch Überraschendes zu Tage. Strukturelle und personelle Kontinuitäten trotz politischer Umwälzungen und Geschichtsbrüche - das ist zwar nichts grundsätzlich Ungewöhnliches. So massiv, wie sie von Tascher für das Gesundheitswesen im Saarland von 1920 bis 1956 nachgewiesen werden, sind diese Kraftlinien aber doch erschreckend.

Historische Abläufe rekonstruieren, den namenlosen Opfern ihre Würde zurückgeben und das Bewusstsein ethischer Grenzen im medizinischen Handeln zu schärfen - diesen selbstgesteckten Ansprüchen versucht sie neben der detaillierten Darstellung der Strukturen und ihrer Entwicklung vor allem über biografische Zugänge gerecht zu werden.

Dies gilt insbesondere für die Zeit von 1933 bis 1955, in der einige Personen das Gesundheits- und Sozialwesen an der Saar "ununterbrochen entscheidend beeinflusst haben". Teilweise kam es nach Taschers Erkenntnissen dabei sogar zu einer "Renazifizierung" der öffentlichen Verwaltung im Saarland.

Dazu zwei Beispiele: Dr. Max Obé war Militärarzt im 1. Weltkrieg, als praktischer Arzt leitend an einem Krankenhaus tätig, Kreisarzt, Engagement in der Deutschen Front und Aufstieg im Beamtenapparat bis zum leitenden Regierungsdirektor. Er hatte Mitverantwortung für Euthanasie und Zwangssterilisation in der "Westmark" und Lothringen.

Als Abteilungsleiter nach dem Krieg war er wieder für das Gesundheitswesen zuständig, nach Suspendierung und deren Aufhebung von 1950 bis 1962 Präsident der Ärztekammer, 1969 mit Paracelsus-Medaille und Bundesverdienstkreuz hochgeehrt gestorben.

Antisemit wurde von der Kammer ein "ehrendes Andenken" versprochen

Noch gespenstischer mutet die Karriere von Dr. Erwin Albrecht an. Der Jurist arbeitete schon früh in einem antisemitischen Verband. Im Justizwesen war er in Prag mitverantwortlich für Todesurteile. Von 1948 bis 1965 diente er als Syndikus der Ärztekammer, der KV und dem Ärztesyndikat.

Selbst ein Auslieferungsgesuch der CSSR und die Aufhebung seiner Immunität als Landtagsabgeordneter änderten daran nichts. Bei seinem Tod 1985 wurde ihm, der zeitweise die NPD unterstützt hatte, von der Ärztekammer ein "ehrendes Andenken" versprochen.

Diese erstaunlichen Karrieren lassen sich nur teilweise mit saarländischen Besonderheiten erklären, etwa dem Buhlen des Nazi-Gegners und Nachkriegsministerpräsidenten Johannes Hoffmann um breite Unterstützung für den Sonderweg einer Europäisierung des Landes, bei der ihm eine konsequente Entnazifizierungspolitik Gegnerschaften eingebracht hätte.

Gewagte Thesen zum Sozialstaat

Die frühe Selbstgleichschaltung des Großteils der Ärzteschaft nach 1933, durch berufspolitische Zugeständnisse erleichtert, war ebenso wenig eine saarländische Spezialität wie das Fehlen eines radikalen Bruchs nach 1945 mit der braunen Vergangenheit. Der saarländische Mikrokosmos eignet sich besonders gut, solchen Entwicklungen im Detail nachzugehen.

Besonders wertvoll sind dabei die biografischen Anhänge, die Tascher in ihrem Buch aufgenommen hat: mehr als 130 teils sehr kurze, teils aber auch ausführliche Lebensläufe von handelnden Personen, aber auch von jüdischen Ärzten geben Zeugnis von Täter-, Mitläufer- und Opfer-Schicksalen.

Ein wenig als Fremdkörper wirken lediglich Taschers gesundheitspolitischen Grundüberzeugungen, die sie zwar offen legt, aber nicht ausführlich begründet. Grundtenor: Die Kontinuitäten im deutschen Sozialsystem hätten eine "demokratische ärztliche Berufsausübung" verhindert, Patienten und Ärzte seien noch heute "zwangssozialisiert".

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