Modellprojekt

Ein Dorf nur für Geflüchtete

Einmal in Deutschland angekommen, müssen viele Flüchtlinge einen neuen, nun geschützten Alltag finden. Das "Michaelisdorf" in Darmstadt hilft Frauen und ihren Kindern dabei - trotz kultureller Hürden.

Von Jana Kötter Veröffentlicht:

DARMSTADT. Kindergeplapper füllt den Raum. Hier schreit ein kleines Mädchen, dort ertönt Lachen. Es ist ein gewöhnlicher Mittag, und es ist eine gewöhnliche Situation in einer Kindertagesstätte - bis auf die Tatsache, dass in dem mit blauem Teppichboden ausgelegten Raum auch zahlreiche Mütter sitzen. Denn die "Blaue Lagune" ist auch ihnen ein wichtiger Ort zum Austausch.

Die "Blaue Lagune" ist das Herzstück des Darmstädter Modellprojekts "Michaelisdorf". In den Räumlichkeiten der Starkenburg-Kaserne an der Michaelisstraße finden bis zu 1000 Flüchtlinge ein neues Zuhause. An der Stelle von einst provisorisch errichteten Zelten auf einem staubigen Parkplatz stehen heute 49 Holzhäuser, der Platz ist aufgeschüttet.

Das dörfliche Zusammenleben dominiert den Alltag zwischen den Wohnblöcken: Auf dem Gelände spielen Kinder Ball, während Mütter über Sorgen mit den Kleinsten sprechen.

"Unsere Bewohner sind überwiegend junge, kinderreiche Familien", sagt Alexander Belloff. Für das Deutsche Rote Kreuz leitet er das "Michaelisdorf". Der Anteil an schwangeren Bewohnerinnen sei wesentlich höher als in anderen Flüchtlingsunterkünften, berichtet er - auch dank der vorgehaltenen gynäkologischen fachärztlichen Versorgung.

"Ab dem achten Schwangerschaftsmonat wird in der Zuteilung der Flüchtlinge verstärkt darauf geachtet, dass sie zu uns nach Darmstadt kommen."

Video

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von movingimage EVP GmbH Um Videos von movingimage zu integrieren, brauchen wir Ihre Zustimmung. Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von movingimage übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät notwendig. Mehr Informationen dazu finden Sie hier .

Veröffentlicht: 26.08.2016 © Springer Medizin

Gut ausgestattete Gesundheitsstation

An die Stelle der Zelte, in denen anfangs die Erstuntersuchungen stattgefunden haben, ist heute eine gut ausgestattete Gesundheitsstation mit Ultraschallgerät getreten. Und statt rein ehrenamtlich tätigen Ärzten regeln Vertragsverhältnisse die Zusammenarbeit.

Im ersten Stock des Kasernengebäudes finden die Bewohner die zwei Behandlungsräume mit regelmäßigen pädiatrischen und gynäkologischen Sprechstunden, im Raum daneben hilft die "Baby-Tankstelle" jungen Müttern, den Umgang mit dem Baby zu erlernen.

"Wir geben etwa Hilfestellung beim Baden und Waschen", erklärt Belloff. Doch auch psychologisch benötigten viele Frauen Hilfe: "Viele der traumatisierten Frauen haben Probleme, eine Bindung zu ihrem Kind aufzubauen", erklärt Heike Pinne von Pro Familia. Früh hat die Beratungsstelle am Rande der Gesundheitsstation ihre Arbeit im "Michaelisdorf" aufgenommen.

Wo Pinne und ihre Kolleginnen nicht helfen können, greift die vertragsärztliche psychotherapeutische Versorgung. Laut Stefan Grüttner (CDU) ist - neben der guten gynäkologischen Versorgung im "Dorf" - auch die psychotherapeutische Versorgung im Umkreis von Frankfurt und Darmstadt ein Grund, gerade junge, traumatisierte oder schwangere Frauen hier unterzubringen.

"So können wir verhindern, dass Traumata über Generationen weitergegeben werden", erklärt der hessische Gesundheitsminister bei einem gemeinsamen Besuch mit Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Für ihn war das "Michaelisdorf" Station seiner Sommerreise.

Farhiya Ahmed freut sich über diese Abwechslung in ihrem neuen Alltag. Die 28-Jährige wiegt ihr nur zwei Monate altes Neugeborenes stolz im Arm, als die zwei Minister ihren Rundgang beenden.

"Ärzte auf Augenhöhe begegnet"

"Ich habe mich hier sehr gut versorgt gefühlt", sagt Ahmed. Sie habe ihr Kind per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht. "Die Ärzte sind mir dabei auf Augenhöhe begegnet, das habe ich sehr geschätzt. Und hier in der Unterkunft habe ich sofort Hilfe im Umgang mit dem Baby bekommen."

Tatsächlich ist Pro Familia einerseits für eine Orientierung im und eine Überleitung in das reguläre Versorgungssystem da, andererseits wird gerade jungen Frauen bei der Vorbereitung von Geburt und Muttersein geholfen. "Schwangere, die ihr erstes Kind erwarten, haben oft Sorge, wie es wird, wenn das Kind da ist", berichtet Pinne.

Dass dabei nicht alle Kinder Wunschkinder sind, macht ihre Arbeit oft schwierig. "Viele Frauen haben in ihrer Heimat oder dann auf der Flucht sexualisierte Gewalt erfahren", weiß Pinne.

So seien Frauen im schlimmsten Fall durch Vergewaltigungen von staatlicher Stelle - "Polzisten etwa, also Männer, die eigentlich Schutz bieten sollen" - schwanger geworden.

Block C gibt ihnen den Schutzraum, den sie brauchen, um solche Traumata aufzuarbeiten. Das rote Backsteingebäude steht neben den anderen Wohnblöcken, ist aber allein für traumatisierte Frauen und ihre Kinder bestimmt. Für auffällige Kinder findet regelmäßig eine Malgruppe statt, in der sie mit einer Psychotherapeutin Erlebtes verarbeiten können.

Doch auch in weniger dramatischen Situationen spürt Pinne, wie Vorerfahrungen und kulturelle Prägung die Beratung erschweren können. Pro Familia sei eine wichtige Anlaufstelle für die Frauen aus aktuell zwölf Volksgruppen. "Wenn die Frauen bei uns dann etwa über Verhütungsmethoden aufgeklärt werden, gefällt das nicht jedem Ehemann."

Doch auch das gehört zum neuen Alltag, den die jungen Familien im "Michaelisdorf" finden müssen. Ziel ist es, durch die frühe Aufarbeitung von Traumata, aber auch durch die gezielte Einbindung der Flüchtlinge den Grundstein für eine schnelle Integration zu legen, erklärt Dorfvorsteher Belloff.

Dazu gibt es täglich ein umfassendes Angebot: Deutschkurse, Sport, Kindergruppen. Zum Zusammenleben im Dorf, betont er, gehört aber auch, sich einzubringen - durch handwerklichen Einsatz etwa.

Hessens Gesundheitsminister Grüttner kündigte für Ende des Jahres erste Ergebnisse der fortlaufenden Evaluation an. Dann soll sich zeigen, ob es womöglich weitere "Michaelisdörfer" geben soll.

Ihr Newsletter zum Thema
Das könnte Sie auch interessieren
Glasglobus und Stethoskop, eingebettet in grünes Laub, als Symbol für Umweltgesundheit und ökologisch-medizinisches Bewusstsein

© AspctStyle / Generiert mit KI / stock.adobe.com

Klimawandel und Gesundheitswesen

Klimaschutz und Gesundheit: Herausforderungen und Lösungen

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein MRT verbraucht viel Energie, auch die Datenspeicherung ist energieintensiv.

© Marijan Murat / dpa / picture alliance

Klimawandel und Gesundheitswesen

Forderungen nach Verhaltensänderungen und Verhältnisprävention

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

© Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen e. V.

Das Frankfurter Forum stellt sich vor

Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Kommentare
Sonderberichte zum Thema
Detailansicht eines Windrades: Bringt eine ökologisch nachhaltige Geldanlage auch gute Rendite? Anleger sollten auf jeden Fall genau hinschauen.

© Himmelssturm / stock.adobe.com

Verantwortungsbewusstes Investment

„Nachhaltig – das heißt nicht, weniger Rendite bei der Geldanlage!“

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: der Deutschen Apotheker- und Ärztebank (apoBank)
Protest vor dem Bundestag: Die Aktionsgruppe „NichtGenesen“ positionierte im Juli auf dem Gelände vor dem Reichstagsgebäude Rollstühle und machte darauf aufmerksam, dass es in Deutschland über drei Millionen Menschen gebe, dievon einem Post-COVID-Syndrom oder Post-Vac betroffen sind.

© picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Symposium in Berlin

Post-COVID: Das Rätsel für Ärzte und Forscher

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Krisenkommunikation war Schwachpunkt in der Pandemie

© HL

Herbstsymposium der Paul-Martini-Stiftung

Krisenkommunikation war Schwachpunkt in der Pandemie

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Eine Ärztin hält einen Reagenzstreifen zur Analyse einer Urinprobe in der Hand.

© H_Ko / stock.adobe.com

Risikofaktoren identifiziert

Für wen könnten Harnwegsinfekte gefährlich werden?

Ein älterer Herr, der einen medizinischen Fragebogen ausfüllt.

© buritora / stock.adobe.com

Metaanalyse

Subjektive Krankheitsbelastung bei Krebs prognostisch relevant