Tschernobyl 2016

Ein Pädiater berichtet

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl jährt sich am 26. April zum 30. Mal. Kinderarzt Dr. Gisbert Voigt hat sich aktuell über Spätfolgen in Weißrussland informiert.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
In Pripyat, nahe dem Reaktor in Tschernobyl, zeigt sich allerlei Zurückgelassenes, wie diese Puppe (Archivbild).

In Pripyat, nahe dem Reaktor in Tschernobyl, zeigt sich allerlei Zurückgelassenes, wie diese Puppe (Archivbild).

© EPA / Helmut Fohringer / dpa

HANNOVER. Am frühen Morgen des 26. Aprils 1986 explodierte der Block VI im Atomkraftwerk W.I. Lenin im Ukrainischen Tschernobyl.

Tonnen von radioaktivem Material wurden in die Atmosphäre getragen. In der Folge erkrankten Hunderttausende von Menschen. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl jährt sich nun zum 30. Mal.

Vor knapp zwei Wochen war der niedersächsische Kinderarzt Dr. Gisbert Voigt in Weißrussland. Er wollte sehen, wie dort Patienten versorgt werden, die noch heute unter der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl leiden.

Krebserkrankungen, Diabetes, Magen-Darm-Erkrankungen und seelische Leiden - bis heute ist die Krankheitslast in der Region unvermindert hoch.

"Kinder von Tschernobyl"

Voigt ist stellvertretender Präsident der Ärztekammer Niedersachsen und Kuratoriumsvorsitzender der niedersächsischen Landesstiftung "Kinder von Tschernobyl".

Sie hat seit 1992 rund 2000 Ärztinnen und Ärzte allein in Weißrussland an Ultraschallgeräten ausgebildet und erkrankte Kinder nach Deutschland in die Ferien eingeladen.

"Tschernobyl ist medizinhistorisch gesehen nach Hiroshima und Nagasaki der Fall, an dem wir erkennen müssen, welche Auswirkungen eine akute und chronische Strahlenbelastung hat", sagt Voigt zur "Ärzte Zeitung".

"Und bei der ganzen Diskussion darum, ob es hier einen unteren Schwellenwert der gesundheitlichen Unbedenklichkeit gibt, müssen wir klar sagen: Diesen unteren Schwellenwert gibt es nicht."

"Die gesundheitlichen Folgen des Teufelskreises der Katastrophe werden spätestens seit 1990 deutlich. Seit diesem Zeitpunkt verzeichnen die betroffenen Staaten einen rasanten Anstieg von Schilddrüsenkrebs - vor allem bei Kindern", so die Stiftung "Kinder von Tschernobyl".

Bis 1986 sei diese Art des Krebses bei Kindern indessen nahezu unbekannt gewesen. "1994 hatten bereits 333 belarussische Kinder Schilddrüsenkrebs, 1997 lag die Zahl schon bei 574 Kindern." Die Erkrankungen hängen unmittelbar mit dem Befall der Schilddrüse mit dem radioaktiven Jod 131 zusammen.

Desaströse Informationspolitik

Zu der desaströsen Informationspolitik der Sowjetunion im Fall Tschernobyl passte es, dass an die Menschen rund um Tschernobyl keine Jod-Tabletten ausgegeben worden seien.

Sie hätten die Schilddrüsenerkrankungen verhindern können. "Heute steht man einer weiter wachsenden Zahl an Schilddrüsenerkrankungen und -krebs bei Kindern und Erwachsenen gegenüber", so die Stiftung.

"Im Tumorzentrum in Minsk werden nach Angaben aus dem Jahr 2014 allein 37 000 Patienten nach geheiltem Schilddrüsenkrebs nachbehandelt", berichtet Voigt. "Geht man nach der normalen Inzidenz, dürften es in Weißrussland nur 400 Fälle im Jahr sein. Die Arbeit ist also wichtig bis heute."

Auch 2016 sei die Zahl der leukämiekranken und missgebildeten Kinder in der Katastrophenregion unvermindert hoch. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit hat heute stark zugenommen, viele Kinder leiden unter Magen-Darm-Erkrankungen.

Auch Bronchial- oder Bluterkrankungen und Typ-1-Diabetes sehen die Ärzte als Spätfolgen der Reaktorkatastrophe.

Liquidatoren im Fokus

"Aufgrund der Strahlenbelastung leiden Menschen unter weit mehr Krebsarten, sowie unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen und immer häufiger unter psychischen Krankheiten", sagt Voigt. Längst geht es nicht mehr allein um die Kinder. Im Fokus stehen auch die Liquidatoren und ihre Familien.

Die damalige UdSSR schickte 800.000 Menschen, vor allem Rekruten, um den Krater des strahlenden Reaktorblocks mit Material zuzuschütten. "Sie sind heute mehr oder weniger alle krank", sagt Voigt. "Viele von ihnen sind gestorben."

Die hohe Krankheitslast der Bevölkerung ist weiter indirekt auf die Reaktorexplosion zurückzuführen. "Kinder, die heute im kontaminierten Gebiet geboren werden, haben immer noch eine hohe Inzidenz an Schilddrüsenerkrankungen, obwohl das Jod 131 aus dem Reaktor längst ausgestrahlt hat", sagt Voigt. Auch Lebensmittel seien weiter hoch belastet.

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Kommentare
Dr. Wolfgang P. Bayerl 27.04.201611:26 Uhr

Herr Vogt ist schlecht informiert, eine "katastrophale Informationspolitik" gibt es nur von "Grünen"

Es gibt eine international besetzte Unoorganisation, auch mit deutscher Beteiligung UNSCAR, die tagt öffentlich JEDES JAHR in Wien. Hier gibt es alle verfügbaren und zuverlässigen Informationen auch über Fukoshima ohne eine einzige akute Strahlungsschädigung oder gar Toten.
Und deshalb bleibt es bei ca. 50 Toten in Tschernobyl, KEINE Missbildungen und nach 30 Jahren bei einer VERMINDERUNG der Krebshäufigkeit. Selbst die überlebenden akut strahlenerkrankten Väter bekamen noch gesunde Kinder.
Fragen Sie einfach einen Humangenetiker,
ob er in Deutschland nach WK2 (1945) eine einzige dokumentierte embryonale Strahlungsschädigung kennt.

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