„EvidenzUpdate“-Podcast

Ärzte vor Gericht: Wie Gutachter mit Behandlungsfehlern umgehen

Wenn Ärzte Fehler machen, tut das schlimmstenfalls nicht nur ihren Patienten weh, sondern auch ihnen selbst. Im „EvidenzUpdate“ sprechen wir über die Sicht eines Gutachters – und was Ärzte tun können, um keine Probleme vor Gericht zu bekommen.

Denis NößlerVon Denis Nößler und Prof. Dr. med. Martin SchererProf. Dr. med. Martin Scherer Veröffentlicht:
Ärzte vor Gericht: Wie Gutachter mit Behandlungsfehlern umgehen

© Springer Medizin

Rund 10.000 Mal im Jahr melden Patienten den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen mutmaßliche Behandlungsfehler. Nach Angaben der Bundesärztekammer werden knapp 50 Prozent hinterher als Fehler bejaht. Hinzu kommen Beschwerden bei den Medizinischen Diensten und im schlimmsten Fall direkte Arzthaftungsklagen bei Gericht.

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Die behandelnden Ärzte müssen dann erklären, ob sie richtig gehandelt haben, dass sie keine Fehler begangen gaben. Dann treten die ärztlichen Gutachter auf den Plan. Doch wann ist ein Fehler ein Fehler? Ist eine falsche Diagnose schon ein Fehler? Was können Ärzte tun, damit die Gutachter im Fall der Fälle nicht zu dem Eindruck gelangen, dass sie daneben gegriffen haben? Das erzählt in dieser Episode vom „EvidenzUpdate“ Gutachter Martin Scherer. (Dauer: 58:26 Minuten)

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Transkript

Nößler: Wenn Ärzte Fehler machen, tut das im schlimmsten Fall nicht nur ihren Patienten weh, sondern auch ihnen selbst. Wann aber ist ein Fehler ein echter Fehler? Wie können Ärzte sich davor wappnen, wie werden sie selbst zu Gutachtern? Was hat eigentlich das Ganze mit Evidenz zu tun? Damit herzlich willkommen zu einer neuen Episode von Evidenz-Update-Postcast. Wir, das sind ...

Scherer: Martin Scherer.

Nößler: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Und hier auch am Mikrofon ist Denis Nößler, Chefredakteur der Ärzte Zeitung aus dem Haus Springer Medizin. Moin, Herr Scherer!

Scherer: Moin in Neu-Isenburg, würde ich mal sagen.

Nößler: Moin nach Hamburg, ich musste es mir gerade verkneifen. Hallo Herr Scherer, hier direkt mir gegenüber. Es gibt ein Fotobeweis in Neu-Isenburg, bei uns in der Redaktion im Studio. Warum sind Sie in der Redaktion der Ärzte Zeitung?

Scherer: Weil Neu-Isenburg in der Nähe von Bad Orb ist, weil da die Practica stattfindet, ich daran teilnehmen darf. Und da haben wir das Nötige mit dem Nützlichen und dem geografisch Naheliegenden verbunden.

Nößler: Und für alle die, diese Episode vielleicht sogar auf der Practica hören und sich jetzt wundern, der steht doch gerade neben mir, der Scherer, kann ja gar nicht sein, dass er hier Podcast macht. Da können wir natürlich den Hinweis durchaus machen, das haben wir just zu Beginn der Practica aufgezeichnet, das Gespräch.

Scherer: Ja, ganz genau.

Nößler: Und jetzt haben Sie ein Thema mitgebracht, das tatsächlich auch Thema auf der Practica ist, Herr Scherer, nämlich das Thema Arzthaftung, ärztliches Haftungsrecht.

Scherer: Genau, Law & Order. Das ist natürlich auch immer was Regulatorisches, was mitschwingt. Keiner will Fehler machen. Wenn mal einer passiert, ist die Frage: Was passiert dann, was folgt daraus? Wie gehe ich damit um? Was bedeutet das vielleicht auch forensisch oder gerichtlich?

Nößler: Kann im Zweifel ja für einen selbst auch bedeuten bis hin zum Approbationsverlust, wenn man richtig Scheiße gebaut hat.

Scherer: Das muss dann schon eine sehr gravierende Sache gewesen sein, die dann eventuell auch strafrechtlich relevant ist. Aber natürlich, es ist unangenehm, wenn Arzthaftungsfälle aufgearbeitet werden, wenn ich selber angeklagt werde. Das kann schon zweimal in einem Arzt- oder Ärztinnenleben passieren, dass es zumindest ein sozialrechtliches Verfahren gibt.

Nößler: Da gibt es ganz viele Ebenen, Kassenarztrecht SGB 5 zählt dann im Zweifel auch.

Scherer: Absolut. Und es gibt ja unterschiedliche Wege. Es ist ja völlig normal, dass sich Patientinnen und Patienten schlecht behandelt fühlen, das kommt jeden Tag vor. Die Frage ist: Wie geht man damit um? Es gibt in Kliniken Lob- und Beschwerdemanagement-Portale. Es gibt Kummerkästen in Praxen. Es gibt die Möglichkeit der persönlichen Ansprache oder dann natürlich auch die Möglichkeit, die Schlichtungsstelle der Ärztekammer anzurufen oder über den medizinischen Dienst der Krankenkassen zu gehen. Und wenn das alles dann nicht der Weg ist, dann gibt es die Möglichkeit, sich einen Anwalt zu nehmen und ein zivilrechtliches Verfahren anzustreben.

Nößler: Hand aufs Herz, ganz persönlich, haben Sie selbst schon einmal oder in Ihrer ärztlichen Berufslaufbahn Situation gehabt, wo Sie hinter sagen, da habe ich ärztlich danebengegriffen, das war nicht lege artis, was ich gemacht habe?

Scherer: Ich erinnere mich an eine Sache, da war ein befreundeter Kollege, eine Physiotherapeut, der in eine Klinik zu mir kam und tatsächlich in dieser buchstäblichen Tür und Angel stand, also im Türrahmen stand, zwischen Tür und Angel. Es war wirklich eine Tür- und Angelsituation, aus der ich gelernt habe, so was nicht noch mal. Der hat mir Flecken am Rücken gezeigt, ich habe mir das ganz kurz da im Türrahmen angeschaut, habe mich total verguckt, völlige Fehleinschätzung, Fehldiagnose zwischen Tür und Angel. Nun war das ein Kollege, der mir das nicht sonderlich übelgenommen habe. Das war mir peinlich. Ich habe daraus gelernt, nie wieder etwas im Türrahmen, nie wieder etwas zwischen Tür und Angel.

Nößler: Also nicht so im Vorbeigehen.

Scherer: Es war übrigens Herpes zoster, den ich damals übersehen habe.

Nößler: Was hatten Sie seinerzeit diagnostiziert?

Scherer: Irgendwelche unspezifischen Effloreszenzen. Ist aber auch sehr, sehr lange her. Würde ich heute nicht mehr übersehen.

Nößler: Okay, man lernt ja auch dazu. Und so richtig mit dem Staatsanwalt oder vielleicht selbst auch mit der Schlichtungsstelle konfrontiert gewesen, haben Sie so etwas schon erlebt?

Scherer: Nein, immer nur als Gutachter.

Nößler: Da kommen wir nämlich hin. Weil das ist auch der Anlass, warum wir über dieses Thema sprechen, da auch der Bezug zur Practica. Sie haben tatsächlich für alle, die nicht bei der Practica sein konnten oder sich zuschalten konnten – der Hinweis, Sie haben dort ein Seminar, ein Vortrag zum Thema Arzthaftungsrecht, auch aus der Sicht eines Gutachters und die Erfahrung, die Sie da so als Gutachter gemacht haben. Vielleicht sollten wir eingangs noch mal so ein bisschen skizzieren, wie das so ist, wie man eigentlich Gutachter wird, wie man da hinkommt – kann man sich da irgendwo bewerben? Muss man da eine Zusatzweiterbildung machen? Und so weiter und so fort. Vielleicht arbeiten wir uns daran mal ab. Und dann schauen wir mal in so atypische beispielhafte Fälle, aus denen wir vielleicht auch lernen können, aus denen Ihre Kollegen auch das eine oder andere mitnehmen können. Wie wird man denn Gutachter, Herr Scherer?

Scherer: Indem plötzlich eine Akte auf den Tisch liegt mit einem formellen Anschreiben. Und der Erteilung eines Gutachtenauftrags. Flattert einfach rein, ungefragt, ohne Anmeldung, liegt plötzlich da.

Nößler: Das heißt, die Gerichte, wenn die jetzt so ein Arzthaftungsfall auf den Tisch liegen haben, oder auch die Staatsanwaltschaft beispielsweise, die gucken dann quasi ins Adressbuch, in die Gelben Seiten, suchen sich Ärzte raus und schreiben die an.

Scherer: Die haben ihre Listen, die haben ihre eigenen Register. Und dann schicken die das an einen Lehrstuhlinhaber oder Lehrstuhlinhaberin für Allgemeinmedizin. Und dann liegt das da im Büro, im Sekretariat. Und dann muss man erst mal die Empfangsbestätigung da zurückschicken und dann auch zusagen, dass man das in drei Monaten abliefert.

Nößler: Die Möglichkeit, dass man selbst jetzt zu Gericht wackelt und sagt: Ach, ich hätte da mal Lust drauf, könnt ihr mich da mal auf eure Liste nehmen? Geht das?

Scherer: Das habe ich noch von keinem gehört, der diese Ambition hatte. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, sich bei Gerichten zu melden und zu sagen: Setz mich mal auf die Liste. Aber in der Regel haben wir alle genug zu tun. Ich kenne niemanden, der sich so wirklich drum reißt. Wenn es dann da liegt, macht man es natürlich. Weil man sich auch nicht so unbedingt sich davor drücken kann. Man kann jetzt nicht einfach sagen: Ich habe keine Lust oder so.

Nößler: Das geht nicht?

Scherer: Nein, also das ist schon eine Bürgerpflicht, es ist auch eine Verpflichtung. Man kann natürlich von dem Gutachtenauftrag zurücktreten, wenn man sagt: Es ist überhaupt nicht mein Fach, ist nicht mein Bereich, ich kenne mich nicht aus. Aber: Habe keine Zeit, will nicht, habe keine Lust – das geht nicht.

Nößler: Das heißt, das Gericht kann einen da schon wirklich in die Pflicht nehmen.

Scherer: Ja.

Nößler: Das ist ein wichtiger Punkt, den Sie angesprochen haben, dass Sie jetzt eigentlich noch keine Kollegin, keinen Kollegen kennen, der sagt: Ich hätte da jetzt selbst Lust drauf. Passt vielleicht dann auch gar nicht so in die Berufsplanung. Nun kostet so was sicherlich Arbeitszeit. Man muss sich da in Akten einlesen, muss Evidenzrecherche machen und dann eine gutachterliche Stellungnahme verfassen. Dann stellt sich die Frage: Wie wird das honoriert? Also ich vermute mal JVEG. Da wird es irgendeine Regelung geben, oder?

Scherer: Ja, da gibt es unterschiedliche Sätze: M1, M2, M3. Und das liegt dann bei M3, wenn es dann um komplexere Kausalitätsfragen geht, kriegt man um die 100 Euro die Stunde.

Nößler: Okay. Und dann gibt man einfach an, so und so viel Stunden brauche ich dafür.

Scherer: Ganz genau.

Nößler: Dann haben wir das schon mal gebracht. Dann könnte man natürlich noch fragen, so aus Ihrer Erfahrung, Sie haben es ja auch mit Kolleginnen und Kollegen zu tun, die auch gutachterlich tätig waren lange Zeit und gutachterlich tätig sind. Haben sie spezielle Kenntnisse, spezielle Fähigkeiten, die da vom Gericht verlangt werden? Oder reicht es eigentlich, ein ganz ordentlicher Facharzt in einem Gebiet X zu sein?

Scherer: Also ich kenne eigentlich keinen Lehrstuhlinhaberkollegin/-kollegen, der oder die noch nie so einen Auftrag bekommen hat. Das ist, glaube ich, völlig normal, wenn man Professor für Allgemeinmedizin ist, dann kommen diese Gutachtenaufträge. Es ist aber kein Muss. Es gibt auch niedergelassene Kollegen, die das schon seit Längerem machen. Der Bedarf ist einfach relativ groß. Und man muss natürlich auch dazusagen – und das ist eigentlich auch ein Erfolg der letzten Jahre, das sich durchgesetzt hat –, dass immer ein Vertreter desselben Fachs begutachten muss. Das heißt, wenn ich angeblich einen Schlaganfall übersehen habe, dann wird jetzt nicht Facharzt oder -ärztin für Neurologie angefragt als Gutachter, sondern das muss dann, wenn es um eine Hausärztin, um einen Hausarzt geht, ein Allgemeinmediziner sein, der das Ganze begutachtet.

Nößler: Verstehe. Also im Prinzip wird immer geschaut, dass man aus dem jeweiligen Gebiet den betreffenden Kollegen oder die betreffende Kollegin findet.

Scherer: Ganz genau. Oft sind es natürlich auch Fälle, die sich sektorenübergreifend abspielen. Die Patienten auch bei unterschiedlichen Kollegen waren und von unterschiedlichen Fachbereichen, vielleicht ambulant, dann waren sie mal zwischendurch in der Notaufnahme, dann waren sie wieder bei einem Orthopäden, dann wieder bei der Hausärztin, dann sind sie mal in die Klinik gekommen. Und dann ist die Frage: Wo ist jetzt was passiert? Dann muss man das alles aufarbeiten. Dann ist man an so einem Fall auch mal schnell mit drei, vier Gutachtern zugange. Dann trifft man sich vielleicht auch irgendwann vor Gericht wieder. Das kommt auch dann immer wieder mal vor, dass die reine schriftliche Erstattung eines Gutachtens nicht ausreicht, weil dann einfach um eine mündliche Erörterung gebeten wird. Und dann wird man eben zu Gericht geladen.

Nößler: Und dann muss man Rede und Antwort stehen. Jetzt würde mich natürlich auch interessieren, aus Ihrer Erfahrung als Gutachter, Sie sind natürlich, was jetzt die Aktenkenntnis betrifft, am Ende zur Schweigepflicht verpflichtet, so oder so. Einerseits natürlich was das Ärztliche betrifft, andererseits natürlich sicherlich, da Sie für Gericht tätig sind. Aber können Sie aus den Fällen, mit denen Sie zu tun hatten, den krassesten Fall mal skizzieren, den Sie erinnern, anonym natürlich.

Scherer: Ich bespreche solche Fälle auch in den Seminaren oder jetzt auch in Bad Orb auf der Practica, wie Sie es anmoderiert haben. Und ich mache das in der Regel so, dass ich das Alter verändere und auch das Geschlecht. Aus der Hausärztin wird der Hausarzt, aus dem Patienten die Patientin, aber auch nicht verlässlich. Also wenn ich jetzt sage, ein 50-jähriger Patient, dann kann das trotzdem ein Patient sein. Also ein Patient um die 50 kommt mir da in den Sinn, der seit mehreren Jahren Rückenschmerzen hatte, immer wieder drunter litt, der sich auch immer wieder damit vorstellte und dann aber auch bei der Hausärztin mit akuter Verschlimmerung war. Der Patient hat gelegentlich Diclofenac und Kortison intramuskulär gluteal injiziert bekommen, also die berühmte Spritze. Und wollte aber auch sonst keine anderen Therapien haben. Die Hausärztin gab eben nach. Sie injiziert viermal innerhalb von acht Tagen Diclofenac und Solu-Decortin intramuskulär. Und dann kam es am Ort der Injektion zu einer Abszessbildung mit anschließender invasiver Streptokokkeninfektion und Sepsis und dann zum Worst Case nämlich dem Multiorganversagen.

Nößler: Also er ist gestorben.

Scherer: Der Patient ist dann nach mehreren Monaten nach Injektion verstorben. Sie haben nach dem schwerwiegendsten oder krassesten Fall gefragt. Das ist der, der mir da in den Sinn kommt.

Nößler: Diclo und Steroid, das ist die Tübinger Bombe.

Scherer: Weiß ich jetzt gar nicht. Das klingt so militaristisch, aber kann schon sein. Also der Begriff, der ist mir nicht ganz fremd, die Tübinger Bombe, aber die ist ja seit Jahrzehnten schon raus aus der Regelversorgung und hat mehr medizinhistorischen Charakter, diese Begriff.

Nößler: Jetzt im konkreten Fall, da ist ein Patient, sagen wir, ein Patient, 50 Jahre alt, hat rezidivierende Rückenschmerzen, kriegt regelmäßig i.m. diese Mischung verabreicht. Und ist nach einiger Zeit dann tot über diesen Verlauf, den Sie jetzt gerade skizziert haben. Was ist da Ihr erster Gedanke, wenn Sie so was lesen, ohne dann eine tiefe Evidenzrecherche zu machen?

Scherer: Fürchterlich, ein fürchterlicher Verlauf. i.m.-Injektion, Spritzenabszess, Sepsis, Multiorganversagen. Das zeigt einfach, weniger ist mehr. Überleg was du tust. Ist die Spritze wirklich nötig? Jede Injektion kann natürlich zu einem Abszess führen. Mach wirklich nur das, was nötig ist. Und prüfe jedes Mal die Indikation.

Nößler: Und geht es dann, wenn wir an diesem konkreten Beispiel bleiben, ganz, ganz schnell für Sie, dass Sie sagen, das ist für mich ganz offenkundig ein ganz eklatanter Fehler?

Scherer: Weil seit mindestens 20 Jahren aus den gängigen Leitlinien, auch aus dem Facharztstandard, wenn man mal dieses Wort mal gebrauchen darf, diese i.m.-Injektionen bei Rückenschmerzen raus sind. Die sind einfach obsolet, die sind nicht mehr empfohlen. Es gibt eine Negativempfehlung. Weil es eben mögliche Komplikationen gibt, wie in diesem Fall. Und weil oral verfügbare Medikamente zur Verfügung stehen, wie zum Beispiel nichtsteroidale Antirheumatika, die oral ebenso gut wirksam sind. Also es braucht diese Spritze nicht.

Nößler: Klar, Diclo kann ich auch p.o. benutzen, nicht nur. Jetzt will ich gleich noch mal zu dem Begriff, den Sie jetzt eingeführt haben, Facharztstandard kommen, den müssen wir klären. Das ist ja auch, dass die Gebiete auch unterschiedlich bei den Dingen vorgehen können. Das ist ja auch Thema im Evidenz-Update regelmäßig. Diesen Begriff, den klären wir jetzt gleich noch mal. Weil er ist wahrscheinlich für die Gutachterei am Ende sehr wichtig. Jetzt interessiert mich aber natürlich an diesem konkreten Fall, was mit dem handelnden Arzt, der handelnden Ärztin – das ist in dem Moment für uns nicht wichtig – passiert ist.

Scherer: Tatsächlich ist es so, dass man so Sachen ankreuzen muss. Man muss um Feedback bitten. Wir kriegen das nicht immer mit, wie so ein Fall dann ausgegangen ist, so eine Begutachtung dann auch gerichtlich verwertet wurde. Man muss dann ankreuzen, dass man den Gerichtsbeschluss dann einfach auch zugestellt haben möchte, in diesem aktuellen Fall weiß ich es, ehrlich gesagt nicht.

Nößler: Aber man dürfte – das ist jetzt zumindest reine Spekulation von meiner Seite – davon ausgehen, bei Ihrer deutlichen Kommentierung, dass es einfach seit einer kleinen Ewigkeit einfach bekanntes, absolut kontraindiziertes Vorgehen ist, dass das vermutlich nicht ohne Konsequenzen geblieben ist für den oder die Handelnde.

Scherer: Dass das dann als grober Behandlungsfehler dann auch so vom Gericht festgestellt wurde. Davon kann man ausgehen.

Nößler: Dann lassen Sie uns jetzt tatsächlich mal, weil wir das brauchen werden für den einen oder anderen Fall, den wir uns angucken wollen, diesen Begriff des Facharztstandards noch mal ein bisschen besprechen und durchleuchten. Sie haben eingangs schon gesagt, dass die Gerichte versuchen, seit einigen Jahren – was heißt versuchen, dass sie es machen –, dass sie gucken, okay, da ist jetzt eine Hausärztin, quasi Beschuldigte oder da ist ein Kardiologe Beschuldigter, dass man dann eben sagt, ich brauche Gutachter aus dem gleichen Gebiet. Oder man hat es mit einer komplexeren Situation, mit mehreren Gutachtern am Ende zu tun. Was bedeutet dann konkret dieser Facharztstandard? Woran orientieren sich die Gutachter und die Gerichte in solchen Fällen?

Scherer: Um es mal salopp zu sagen, ist die Beklagte oder der Beklagte mitgeschwommen in dem Strom dessen, was so üblich ist. Oder gibt es in irgendeiner Richtung einen Ausschlag. Oft ist es ja keine Schwarz-weiß-Geschichte. Da gibt es Grauzonen. Sie wissen, dass ein Großteil der Entscheidungen, die wir im ärztlichen Alltag sprechen, nicht abgebildet ist durch Leitlinien. Das heißt, es kommt dann so eine Komponente rein, dass man natürlich erst mal guckt, was sagt die gültige Leitlinie, gibt es neuere Publikationen? Man muss auch immer berücksichtigen, dass die Fälle, die man auf den Tisch kriegt, oft drei bis fünf Jahre, manchmal länger, zurückliegen. Dass man sich immer auf das Wissen beziehen muss, was zu diesem Zeitpunkt des Behandlungsfalls dann auch vorlag.

Nößler: Das heißt, im Zweifel, an Literatur kommen Sie gar nicht vorbei.

Scherer: An Literatur kommt man nicht vorbei. Das ist die externe Evidenz. Die muss man natürlich heranziehen. Aber dann geht es eben weiter. Und dann ist im aktuellen Fall vielleicht gar keine Literatur so konkret anwendbar beziehungsweise endet das dann irgendwann. Es geht ja dann auch sehr ins Detail. Dann ist die Frage: Wer hat was gesagt, welche Symptome lagen vor? Dann widersprechen sich Ärztinnen und Patienten auch manchmal. Und dann kommt man in so einen Bereich, dass man so ein bisschen einschätzen muss: Ist das, was da gemacht wurde, wie da vorgegangen wurde, was dokumentiert wurde, wie die Entscheidung zustande gekommen ist, ist das noch üblich oder ist das eigentlich für eine Fachärztin, für einen Facharzt für Allgemeinmedizin so nicht angemessen?

Nößler: Ich mache es mal so ein bisschen komplexer vielleicht. Nehmen wir mal das Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Kollegin, ein Kollege, der oder die ist Internistin, aber in der hausärztlichen Versorgung tätig. Und jetzt kommt da – ganz hypothetischer Fall – Brustschmerzen, Luftnot, strahlt vielleicht aus in den linken Arm. Damit ist die Causa schon ziemlich klar, zumindest verdachtsdiagnostisch. Jetzt ist das eine Internistin/Internist, aber hausärztlich tätig. Welche Leitlinien gelten denn dann? Gilt dann ausschließlich die Leitlinie der DEGAM, was zum Beispiel bei dem Thema Thoraxschmerz jetzt zu tun wäre, beispielsweise. Oder gelten dann auch die Leitlinien der ESC, der Kardiologen?

Scherer: Die DEGAM ist die wissenschaftliche Fachgesellschaft der Hausärztinnen und Hausärzte in Deutschland.

Nößler: Soweit bekannt, ja.

Scherer: Ob das nun hausärztliche Internistinnen, Internisten sind, ob das Fachärzte für Allgemeinmedizin sind, da gilt natürlich die DEGAM-Leitlinie. Die DEGAM-Leitlinien gelten, das sollte dann schon auch ein Gutachter sein, der Hausarzt ist. Ich lass es mal offen, ob das ein hausärztlicher Internist sein kann, auf jeden Fall muss es ein hausärztlich tätiger Gutachter sein.

Nößler: Ich mache den Fall mal etwas komplexer vielleicht. Weil es gibt eine Sache, die vielleicht gar nicht so einfach ist. Wir haben es ja hier immer wieder zu tun mit Dingen, wo das eine Gebiet zu einer anderen Einschätzung kommt als zum Beispiel die Allgemeinmedizin. Erinnern Sie sich an das Thema Lipide, da haben wir darüber gesprochen. Da gab es diese fette Analyse, wo man herausgefunden hat, the better ist in der Regel nicht the better, sondern the worst. Hatten wir herausgefunden. Und dann war das Credo der DEGAM, das kann man auch in der hausärztlichen Leitlinie nachlesen, nur bei krassem Risikoprofil wirklich senken. Und die Kardiologen allerdings, die ESC, die sehen das etwas anders, das wissen wir auch. Die haben 55 als Ziel, also Treat-to-Target. Nehmen wir mal an, ein Patient, der jetzt mit der jetzt mit der Lipid-Therapie behandelt wird, ist beim Hausarzt, dann hinterher vielleicht auch beim Kardiologen. Dann gehen die beiden Gebiete im Zweifel unterschiedlich vor. Kann es da nicht auch zu einem gutachterlichen Konflikt kommen? Dann liegen am Ende zwei Gutachten am Tisch. Der eine sagt: Hü, der andere Hott. Ist das nicht auch so eine Konstellation, die denkbar ist?

Scherer: Jetzt haben Sie es tatsächlich geschafft, in dieses eigentlich epidemiologieferne Thema das Bayes-Theorem reinzumixen. Aber das ist natürlich die Diskussion, die wir ständig haben mit unseren Leitlinien, mit anderen Fachgesellschaften. Schlaganfall ist Schlaganfall. Demenz ist Demenz. Depression ist Depression. Und Myokardinfarkt ist ein Myokardinfarkt. Egal ob der Patient, die Patientin in der Hausarztpraxis ist, in der Notaufnahme, in der Klinik oder sonst wo. Nein, eben nicht. Weil das Setting, bestimmte Vortest-Wahrscheinlichkeiten mit sich bringt, ein anderes Setting, andere Selektionsprozesse nach sich zieht oder Selektionsprozesse vorgeschaltet waren, wenn der Patient, die Patientin in der Notaufnahme aufschlägt. Das sind verschiedene Filterprozesse, die dann zu einer bestimmten Vortest-Wahrscheinlichkeit führen. Und ein Test auch unterschiedliche Implikationen und Aussagekraft hat. Wir wissen ja, wir hatten das Thema bei COVID mehrfach, dass die Aussagekraft eines Tests natürlich auch von der Prävalenz eines bestimmten Settings abhängt. Und die Prävalenz eines bestimmten Settings hängt wieder von Selektionsprozessen ab. Und jemand, der beim Kardiologen landet, der ist, wenn es gut läuft und das keine selbstständige Eigenüberweisung war oder Selbstüberweisung war, dann ist er durch einen Filterprozess gelaufen, der so aussieht, dass eine Hausärztin oder ein Hausarzt gesagt hat: Ja, der muss da hin. Und deshalb haben wir diese Diskussion ständig und überall in der gesamten Leitlinienentwicklung, dass wir sagen: Jeder Versorgungsbereich braucht versorgungsbereichsspezifische Empfehlungen. Weil epidemiologische Implikationen unterschiedlich sind, Prävalenzen unterschiedlich sind und einfach Setting-Charakteristika unterschiedlich sind. Und deshalb kann es schon sein, dass man dann ein Facharzt für Allgemeinmedizin als Gutachter hat, weil es darum geht, wie wurde der Schlaganfall jetzt ambulant behandelt in der hausärztlichen Praxis. Und trotzdem hat man vielleicht noch im selben Verfahren einen neurologischen Gutachter, weil der Patient ja dann auch irgendwie zwischendurch in der Klinik war, auch stationär behandelt wurde. Und da gilt da natürlich die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Wir versuchen natürlich auch immer – da arbeitet die AWMF auch darauf hin –, dass es nicht parallele Leitlinien zu denselben Themen gibt. Aber entweder wir kriegen es hin in der interdisziplinären Leitlinie, in der nationalen Versorgungsleitlinie oder in der interdisziplinären S3-Leitlinie oder wir müssen es eben auch hin und wieder mal fachspezifisch machen. Was wir anstreben, sind natürlich die interdisziplinären Leitlinien.

Nößler: Und da kennen wir natürlich auch die Sondervoten, die zumindest Hinweise geben können auf Besonderheiten.

Scherer: Aber auch in den interdisziplinären Leitlinien trennen wir nach Setting. Dann mischen wir uns in so einer Leitlinie nicht in das ein, was in der Klinik passiert. Und wollen dann natürlich auch als DEGAM auch nicht groß dazwischengefunkt kriegen, wenn wir sagen, was in der Hausarztpraxis Gültigkeit hat.

Nößler: Ich sage mal, Klassiker Brustschmerzen, akuter Myokardinfarkt – wissen wir ja, epidemiologisch, wenn jemand mit einer Apnoe, mit Brustschmerzen ins Krankenhaus kommt, ist die Vortest-Wahrscheinlichkeit, dass es wirklich ein Infarkt ist, sehr viel höher, als wenn das Gleiche in der Hausarztpraxis passiert.

Scherer: So ist es. Genau.

Nößler: Das heißt, die Aufgabe eines allgemeinmedizinischen Gutachters, wenn ich Sie da richtig verstehe, ist am Ende auch, den Gerichten, die da entscheiden müssen, die ja keine Ärzte sind, das sind Juristen, das sind Richter, denen eben Bayes-Theorem zu erklären. Das heißt, tatsächlich ist es dann auch Ihre Aufgabe als allgemeinmedizinischer Gutachter, zu erklären, was der Unterschied zwischen einem Niedrigprävalenz-Setting und einem Hochprävalenz-Setting ist.

Scherer: Interessanterweise muss ich das so gut wie nie erklären. Weil das inzwischen längst Common Sense ist in den Gerichten, dass Allgemeinmedizin allgemeinmedizinische Gutachter braucht, dass es die DEGAM gibt, dass es unsere Leitlinien gibt. Das ist inzwischen überall bekannt. Man darf auch nicht vergessen, dass die Fragen, die einem gestellt werden, oft sehr detailliert abgeschichtet sind. Und dass man dann auch zwischen unterschiedlichen Szenarien unterscheiden muss. Also oft ist ja die Frage: Welches Szenario wird zugrunde gelegt? Damit fängt es ja schon mal an. Nehmen wir das Beispiel Kopfschmerz. Die Patientin kommt mit Kopfschmerz rein – das ist vielleicht auch noch mal so ein etwas stärkerer oder gravierender Fall – es stellt sich dann als Sinusvenenthrombose heraus, die nicht zeitnah erkannt und behandelt wurde, mit Verzögerung erst und ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Bei so was ist dann natürlich die Frage, wurden die Red Flags abgefragt, erkannt? Wurde zum Beispiel nachgefragt, ob das ein Kopfschmerz ist, der in seiner Intensität oder Qualität so noch nie aufgetreten war, ob das ein Kopfschmerz mit neurologischen Begleitsymptomen war und Sehstörungen mit Erbrechen, einer Hirndrucksymptomatik mit Pupillenveränderung, mit Schwindelgefühlen. Also gibt es Red Flags? Gab es die Red Flags zum Zeitpunkt der Vorstellung? Wie wurde dokumentiert? Wurde nach den Red Flags gefragt? Und da kommt man dann in so Bereiche rein, wo vielleicht dann nicht ganz akribisch dokumentiert wurde und wo dann auch hin und wieder Aussage gegen Aussage steht und gesagt wird: Ja, ich hatte Sehstörungen, ich habe das auch gesagt. Und vielleicht von ärztlicher Seite es dann heißt: Nein, also Sehstörungen oder neurologische Symptome lagen nicht vor. Und dann muss man sich als Gutachter wieder an das Gericht wenden und sagen: Jetzt, liebes Gericht, sagt mir mal, wie es wirklich war, welches Szenario lege ich jetzt zugrunde? Wenn ihr mich danach fragt, hätte früher reagiert werden müssen, hätte eine zeitnahe Bildgebung stattfinden müssen? Hätte eine neurologische Überweisung oder gar eine Klinikeinweisung erfolgen müssen? Das heißt, man muss dann immer schauen, welches Szenario wird zugrunde gelegt. Man darf sich nicht dann aufs Glatteis führen lassen, dass man selber sich auf die Darstellung einer Seite schlägt. Man muss dann notfalls das Gutachten splitten und das in Szenario A und B einteilen, je nachdem welche Sachverhaltsdarstellung zutrifft. Und dann wird das einfach sehr abgeschichtet beantwortet. Das können 20 Fragen sein, das können 5 Fragen sein, das ist sehr unterschiedlich. Aber die Menschen, die so eine Klage anstrengen, die fühlen sich geschädigt, die fühlen sich nicht richtig behandelt. Die haben auch ein Leiden, das möglicherweise bleibend ist, eine Behinderung. Und dann ist die eine Frage erst mal: Gibt es ein Befunderhebungsfehler?

Nößler: Befunderhebungsfehler, das ist insofern ganz spannend. Also Sie haben jetzt gerade zig Dinge aufgeworfen, die ich total interessant finde. Stichwort Dokumentation ist so was. Jetzt haben Sie gesagt Befunderhebungsfehler. Vielleicht können wir das ein bisschen abarbeiten. Befunderhebungsfehler, heißt es letztlich, es geht vor Gericht in so einem Arzthaftungsverfahren gar nicht darum, dass das Gericht herausfinden will, hat der oder die richtige Diagnose gestellt, sondern es geht eher darum, hat der oder die die richtige Diagnostik gemacht. Und mit Blick auf das Thema Dokumentation, hat er das, was vorliegend war, richtig befundet, dann auch entsprechend dokumentiert?

Scherer: Es ist ein guter und wichtiger Punkt, den Sie da ansprechen. Weil eine Patientin, ein Patient nicht das Recht auf eine Diagnose hat, sondern das Recht auf die korrekte Diagnostik und die korrekte Behandlung und deshalb eigentlich auch das Recht auf eine korrekte Arbeitshypothese. Und da kommen wir dann zu diesem fraglichen Befunderhebungsfehler. Wenn ich das Gefühl habe, ich wurde geschädigt durch einen Fehler, muss ich als klagender Patient beweisen, dass dem so ist. Dass die Handlung, die ärztliche Handlung wirklich auch zu meinem jetzigen eingeschränkten Gesundheitszustand geführt hat. Gelingt es mir allerdings nachzuweisen, dass es hier sich um ein Befunderhebungsfehler handelt, das heißt, dass es ein Befunderhebungsfehler im Sinne unvollständiger Anamnese, unvollständiger Diagnostik gab, dann gibt es die sogenannte Beweislastumkehr. Und dann muss ich wiederum als Beklagter belegen, dass mein Fehler nicht kausal mit dem herabgesetzten, möglicherweise lange anhaltenden Gesundheitszustand in Verbindung steht.

Nößler: Ich bleibe mal bei dem Beispiel, das Sie eben gemacht haben mit der Dame, die in die Praxis kommt mit Kopfweh. Im Zweifel hatte sie vielleicht zu dem Zeitpunkt sogar schon Petechien, so was in der Richtung. Sie hatten jetzt schon die CSVT, die zerebrale Sinusvenenthrombose, die da eine Arbeitsdiagnose sein könnte, mit der man weiter vorgeht. Was wäre in dem Moment ein Befunderhebungsfehler? Wenn die Patientin nachweisen könnte, dass sie Kopfschmerzen hatte zu dem Zeitpunkt? Dass sie vielleicht auch sogar Petechien hatte? Und das aber aus der Dokumentation des Arztes nicht hervorgeht?

Scherer: Jetzt muss man ein bisschen aufpassen. Also eine Sinusvenusthrombose muss nicht zwangsläufig mit einer Thrombopenie einhergehen. Aber nehmen wir doch mal wirklich Symptome, die wirklich als Red Flags für Kopfschmerzen auch gelten. Das sind die Qualität und die Intensität des Kopfschmerzes. Also Kopfschmerzen, die so stark sind wie sie noch nie waren. Oder auch in einer Qualität, wie ich sie noch nie zuvor kannte und eventuell mit einer Sehstörung, mit Übelkeit, Erbrechen oder im schlimmsten Fall auch einer Bewusstseinstrübung. Wenn ich danach überhaupt nicht gefragt habe, nichts gefragt, nicht gescheckt, nicht dokumentiert, nicht neurologisch untersucht.

Nößler: Das heißt, im besten Fall bin ich auf der sicheren Seite, wenn ich wirklich dokumentiere, dass ich das gefragt habe.

Scherer: Genau. Also wenn da zum Beispiel steht, dass die Hirnnerven intakt sind, dass die Sensibilität, die Motorik, die Koordination intakt sind, wenn da etwas steht in der Dokumentation, aus der herauskommt, dass man eine gute Anamnese gemacht hat, dass man die Red Flags abgefragt hat und dass man einfach auch neurologisch untersucht hat und dass die Patientin zu dem Zeitpunkt dann auch neurologisch unauffällig war. Je klarer und akribischer dokumentiert wurde, desto deutlicher ist natürlich auch: Ja, ich habe es gecheckt, das angeguckt.

Nößler: Also ganz wichtig an der Stelle der Hinweis: Dokumentation, Dokumentation, Dokumentation. Wer schlampig dokumentiert im Zweifel und das vor Gericht rauskommt, kann sich schon allein deswegen Ärger einhandeln oder macht das Gericht im Zweifel sogar aufmerksam.

Scherer: Es macht die Sache unglaublich schwer. Also das zieht die Verfahren unglaublich in die Länge, wenn wenig bis gar nichts dokumentiert ist, weil dann einfach die Frage aufkommt, wie war es denn nun? Was bleibt der Richterin oder dem Richter anderes übrig, als dann die Klägerin, wenn man sie noch fragen kann, was ja auch leider manchmal nicht der Fall ist, irgendwie herauszufinden, wie war es. Also dem Richter bleibt nichts anderes übrig, als beide Seiten zu befragen. Und da muss man natürlich auch bedenken, dass so ein Fall mehrere Jahre dann auch zurücklag und sich viele dann einfach auch nicht mehr erinnern können. Wenn ich Sie heute behandle, zusammen an einem Tag in einer Reihe mit 30 bis 40 anderen Patienten. Und ich werde dann nach fünf Jahren gefragt, ob sie bei Ihren Rückenschmerzen Taubheits-, Kribbelgefühle und eventuell Paresen hatten im rechten Bein – tja, weiß ich nicht, ob ich das, wenn ich es nicht aufgeschrieben habe, nach fünf Jahren noch weiß, wahrscheinlich nicht. Das zieht die Sache dann extrem in die Länge. Dann kommen oft so Sachen, wie: Naja, in unserer Praxis ist allgemein das und das üblich, ich mache es eigentlich immer so, dass ... Dann liegt es am Richter oder an der Richterin, diese Darstellung auch als Sachverhaltsdarstellung anzuerkennen. Dann wird man als Gutachter meistens gefragt: Ist das so nachvollziehbar, dass das so immer gemacht wird? Ist es in anderen Praxen auch immer so, dass immer gefragt wird, Wiedervorstellung bei Verschlechterung und Persistenz. Das ist ja dann auch oft so eine Sache, dass so eine Behandlungskette abreist, dass ein Patient, eine Patientin länger nicht mehr da war. Dann fragt man sich warum, was ist in der Zwischenzeit passiert. Warum hat sich da was verschlechtert, ohne dass da nachgehakt wurde. Dann heißt es natürlich sehr oft, ich sage den Patientinnen und den Patienten eigentlich immer: Kommt wieder, wenn es nicht besser wird oder es sich verschlechtert. Und das sind dann immer so Situationen. War es wirklich so? Was wurde genau besprochen? Und wenn dann nichts so kommentiert ist, dann zieht das so ein Verfahren unglaublich in die Länge.

Nößler: Also Hörerinnen-/Hörertipp: Dokumentiert. Und im Zweifel dokumentiert eben auch den Hinweis, sich wieder vorzustellen, wenn irgendwas passiert. Jetzt hatten Sie gerade angedeutet eine wahrscheinlich nicht ganz untypische Konstellation, dass jemand in der Praxis ist und beklagt irgendwas. Und man hat das geprüft und gefährlich abwendbare Verläufe versucht auszuschließen. Hat sich Red Flags genähert. Und hat dann festgestellt, da ist im Moment nichts radikal Gefährliches und hat dann dieser Person gesagt: Dann komm doch mal wieder oder im Zweifel überweist man zum gebietsärztlichen Kollegen. Nehmen wir mal das Beispiel, dass jemand kommt, der vielleicht Schmerzen hat und dann klärt man das irgendwie ab und das ist alles unauffällig. Und dann geht das weiter, weiter, weiter. Und vielleicht gehen die dann zu Gebietsärzte und am Ende kommt irgendwas ganz Bösartiges heraus: eine merkwürdige unangenehme Erkrankung mit schwierigen Fällen. Wer ist denn der Gelackmeierte? Ist dann derjenige, Stichwort Recht auf gute Diagnostik – oder anders gefragt: Kann das eine typische Konservation sein, dass am Ende Patienten zwar sagen: Ich will, dass jemand dafür verantwortlich ist, aber das Gericht sagt, es tut mir leid, dafür kann niemand verantwortlich sein. Es ist ein blöder Verlauf für dich.

Scherer: Das ist ein häufiges Problem, dass man dann auch zu dem Punkt kommt, wo man sagt: Ja, das war so eine Art Pseudofehler. Es hat sich aus dem Verlauf heraus eine Verschlechterung ergeben. Aber zu dem Zeitpunkt, wo die Konsultation stattfand, wurde alles richtig gemacht. Und dennoch landet der irgendwann in der Klinik und das war jetzt doch der Myokardinfarkt, obwohl er ein paar Mal vorher in der Hausarztpraxis war und das richtiger Weise als Brustwarnsyndrom klassifiziert wurde. Und die Patienten und Patientinnen dann zu recht denken, Mensch, ich war doch jetzt so oft bei meiner Hausärztin.

Nößler: Die hätte das doch sehen müssen.

Scherer: Die hätte das doch sehen müssen. Und jetzt in der Klinik ist es ein Myokardinfarkt. Das ist das natürlich eine Situation, die man als Pseudofehler bezeichnen kann. Ein spezialistischer Gutachter hat natürlich sehr oft die Ex-post-Betrachtung, dass er sagt: Mein Gott, das hätte er doch sehen müssen, das hätte sie doch sehen müssen. Die Kolleginnen und Kollegen in der Klinik, die sehen dann natürlich auch oft die Negativauswahl dessen, was in der Hausarztpraxis stattfindet. Negativauswahl meine ich Fälle, die ambulant nicht bewältigt werden konnten und die vielleicht auch so schwer waren, dass sie in der Klinik dann weiter therapiert werden müssen. Da rutscht einem dann schon mal was raus, wie: Das hätte er doch sehen müssen. Wie kann er nur? Aber das sind sehr ungute Äußerungen, die sollte man sich wirklich verkneifen. Weil das dann natürlich auch einen gewissen Haftungsanspruch triggert. Und die Patientinnen und Patienten das Gefühl haben: Jetzt war ich immer wieder bei meiner Ärztin und dennoch ist das passiert und auch die in der Klinik haben gesagt, das hätte sie eigentlich sehen müssen. Da muss man wirklich sehr aufpassen und sich von den gravierenden Umständen nicht in so eine Ex-post-Falle locken lassen. Also das ist auch wirklich ein Appell an die Klinikkollegen, da ein bisschen achtsam zu sein.

Nößler: Also der Gutachterjob ist jetzt nicht geeignet, sagen Sie, auf der einen Seite Kollegenbashing zu machen und auf der anderen Seite neue normative Kriterien vorzugeben, wie etwas zu sein hat.

Scherer: Es ist ein Detektivjob, es ist eine ganz akribische Detailarbeit. Ich muss die Behandlungssituation vor mir sehen. Es ist oft wie so ein Puzzle, das nie vollständig ist, wo immer Puzzleteile fehlen. Aber ich muss ungefähr ein Gefühl davon haben, wie krank war die Patientin, wie sah sie aus, wie hat sie sich gefühlt, was hat sie gesagt, was hat die Ärztin gesagt, was wurde gefragt, was wurde gemacht? Das ist wie bei so einem Tatort ungefähr. Dass man so eine Szenerie nachstellen muss, gedanklich nachstellen muss. Und das ist eine unglaubliche Arbeit, dieses Puzzle vor seinem inneren Auge entstehen zu lassen. Da ist man so stark mit beschäftigt, dass man sich den Luxus moralisierender Werurteile gar nicht mehr erlauben kann.

Nößler: Also der Gutachter ist insbesondere auch Forensiker in seinem Fach. Bleiben wir noch mal bei diesem Pseudofehler, den Sie da angesprochen haben. Wahrscheinlich eine Konstellation, die es nicht so selten gibt. Können Sie so ein bisschen einschätzen, wie die Gerichte damit umgehen? Weil ich könnte mir ja schon vorstellen, dass es doch den einen oder anderen Sorgen bereitet, dass er was übersieht, was er nicht sehen konnte.

Scherer: Die Gerichte schichten das ganz klar ab. Also die nehmen sich jede Konsultation einzeln vor. Angenommen, Sie waren fünfmal mit Brustschmerzen bei mir und landen danach mit einem Herzinfarkt in der Klinik. Dann werden diese fünf Konsultationen bei mir Stück für Stück durchgekaut. Dann wird für jede Konsultation einzeln dieses Puzzle erstellt. Wie haben Sie sich präsentiert? Was waren genau die Symptome? Was haben Sie gesagt? Was wurde dokumentiert? Was wurde gemacht? Und der Gutachter wurde dann gefragt: Was hat er da gehabt? Hat er da schon einen Herzinfarkt gehabt oder war das da ein Brustwarnsyndrom? Und das wird für die erste, die zweite, die dritte bis zur fünften Konsultation einzeln durchgekauft. Und das wird dann für jede einzelne Konsultation geprüft, hätte man da jetzt nicht was machen müssen? Hätte da jetzt nicht eine Überweisung erfolgen müssen zur Kardiologie oder vielleicht sogar in die Klinik? Und deshalb muss man sich darauf einstellen, dass jede Einzelkonsultation für sich stehen muss. Dass jede einzelne Konsultation für sich auch rund sein muss und in irgendeiner Art und Weise nachvollziehbar sein muss. Wenn ich da dokumentiert habe, muss ein anderer, der das liest, ein Gefühl davon kriegen, wie krank war der Patient, wie dringlich war das, was war meine Arbeitshypothese und wie sind wir verblieben.

Nößler: Dann haben wir wieder das Thema Dokumentation. Und wenn da Lücken übrigbleiben, dann macht man es dem Gutachter relativ leicht zu sagen, also ich hätte ganz dringend empfohlen, noch das und das und das zu erkunden und befunden. Jetzt schauen wir vielleicht noch mal auf einen anderen Aspekt. Sie haben auf der einen Seite schon gesagt, die Gerichte haben eine Menge dazugelernt. Die Gerichte haben gelernt, dass es in der medizinischen Versorgung Niedrigprävalenz-Bereiche und Hochprävalenz-Bereiche, dass man da unterschiedlich vorgeht. Sie haben gesagt, die gucken sich Konsultation für Konsultation an, also bewerten das scheibchenweise und bewerten jedes Scheibchen auch für sich. Es klingt so danach, dass die Gerichte eben nicht nach binären Schwarz-Weiß, gut und schlecht vorgehen. Also die Befürchtung, die man ja haben könnte, ist, dass ein Richter erwartet, es gäbe in der medizinischen Evidenz in der Literatur ein ganz klares Vorgehen für eine Sache – das, was Sie eben sagten. Schlaganfall ist eben nicht immer Schlaganfall. Kann man das so sagen, dass die Gerichte da sehr wohl mit Graustufen arbeiten oder mit Grauzonen, dass sie das zulassen, dass Evidenz oder EBM generell auch immer etwas Gräuliches ist?

Scherer: Ich bin immer wieder beeindruckt davon, wie sich die Richterinnen und Richter in so einen Fall reinarbeiten und wirklich auch aus einem herauskitzeln und dann auch ein relativ klares Bild davon kriegen. War das jetzt noch halbwegs lege artis, was da passiert ist? Oder war das außerhalb jeder Skala? Ein Richter hat mich mal gefragt, um den Schwergrad eines Fehlers einzuschätzen: Stellen Sie sich mal vor, Sie fahren mit dem Auto durch eine 30-Zone. Wie schnell ist der jetzt zu schnell gefahren? Ist der 50 gefahren, ist er 70 gefahren oder ist er mit 100 durch die 30-Zone? Und das sind dann oft so Annährungsfragen, die ein Bild davon vermitteln, für wie gravierend schätze ich diesen Fehler jetzt eigentlich ein. Oder dann gibt es diesen Terminus des groben Behandlungsfehlers, ein Vorgehen, das – mir kommt dieses Wort Schlechterdings – einem Arzt, einer Ärztin nicht unterlaufen darf und somit überhaupt nicht mehr verständlich ist. Wo man sich sozusagen nur noch an den Kopf fasst. Ich muss auch gleich dazusagen, dass so was extrem selten ist.

Nößler: Machen wir mal ein Beispiel auf. Bewusstlose Person und ich taste den Puls nicht. Das wäre so ein ganz grober Behandlungsfehler. Vitalitätswerte checken in dem Fall.

Scherer: Ja, also wirklich so ganz basale Dinge. Oder nehmen Sie das Beispiel, was wir ganz am Anfang brachten, wo Sie mich nach einen gravierenden Fall fragten, Diclofenac, Dexa i.m., ein Vorgehen, das seit vielen Jahren obsolet ist, das tausendfach auf Fortbildungen auch entsprechend besprochen wurde, das wirklich über alle Kanäle des Wissensmanagements in die Versorgung reingesickert ist, seit Jahrzehnten. Und dagegen verstößt – ja, okay, grober Behandlungsfehler. Aber zurück zu den Grauzonen. Es ist natürlich so – und das ist ein Thema, das haben wir ständig in diesen Evidenz-Update – es ist eine Utopie, davon auszugehen, dass alle Entscheidungen, die wir treffen, dann sich auch irgendwie durch Leitlinien oder durch externe Evidenz belegen lassen, dem ist nicht so. Ein Großteil unserer Entscheidungen ist im leitlinienfreien Raum loziert.

Nößler: Also die absurde Vorstellung, die gesamte Medizin sei algorithmusierbar.

Scherer: Es sind vielleicht 15 Prozent unserer Entscheidungen, wo man sagen kann, dafür gibt es auch eine Leitlinie. Aber wenn Sie in meine Sprechstunde kommen und mit Ihrem Zettelchen und Ihren zehn Themen darauf und mich mit acht Fragen zu jedem einzelnen Thema löchern, dann hole ich natürlich einiges aus der Lamäng, zieh das As aus dem Ärmel und ziehe das andere wiederum aus meiner internen Evidenz, aus meiner Erfahrung und so weiter. Und dann bewegen wir uns oft so in Grauzonen auch, also Begutachtung, wo danach gefragt wird: Ist es eigentlich so üblich? Wie machen das andere Kollegen? Und dann kommt man auch als Gutachter in so Bereiche, wo man sagt: Ich mache das so und so, aus den und den Gründen. Und aus meiner Kenntnis der Versorgungsforschung, aus meiner Peergroup-Kenntnis heraus, aus Qualitätszirkeln, Fortbildungsveranstaltungen, Practica Bad Orb, DEGAM-Kongresse, diese ganze Norming, Storming, Performing. Dieses sich kalibrieren in regelmäßigen kollegialen Meetings. Dafür ist der Austausch auch wichtig, auch jetzt mal endlich wieder face to face. Da kriegt man ein Gefühl dafür, was üblich ist. Und ich weiß, wie das andere Kollegen machen und andere Kollegen in Praxen. Und dieses Gefühl muss man dann dem Richter gegenüber transportieren. Und darauf kommt es dann auch bei so einer Dokumentation drauf an. Dass man einfach merkt: Aha, hier war jemand mit Brennen beim Wasserlassen. Es wurde Flankenschmerz geprüft, es wurde vielleicht auch ein suprapubische Druckschmerz ertastet, es wurde nach Fieber gefragt oder nach systemischen Krankheitszeichen geschaut, um dann eben auch zu verdeutlichen, die Pyelonephritis, die die Patientin nach sechs, sieben Tagen hatte, die habe ich nicht übersehen. Denn als sie bei mir war, war das ein unspezifischer Harnwegsinfekt, da war nichts mit Pyelonephritis. Wenn das die Dokumentation hergibt, dann ist es natürlich für alle sehr viel einfacher.

Nößler: Also ganz, ganz deutlich dokumentieren, vor allem, was man gefragt hat, dokumentieren, wie man vorgegangen ist.

Scherer: Genau.

Nößler: Kann man an der Stelle vielleicht nicht oft genug betonen. Das ist vielleicht auch so die schlechte – schlechterdings hätte ich fast gesagt – bestenfalls ist es die Take-Home-Message auch aus Ihrem Vortrag in Bad Orb.

Scherer: Absolut, bestenfalls – schlechterdings, ich weiß nicht, ist Ihnen das Wort schon mal begegnet irgendwo?

Nößler: Ich habe es so zum ersten Mal gehört, schlechterdings. Also Juristensprache ist ja was ganz Feines, was ganz Besonderes. Es gibt dieses – das hat jetzt hier damit gar nichts zu tun – „Billiges Ermessen“, das ist für einen Jurist eine ganz klare Sache, wird aber in der Bevölkerung in der Regel 180 Grad falsch verstanden. Also interessante Sprache mit Juristen. Vielleicht sollten wir mal einen Medizinrechtler einladen. Könnte auch mal ein spannender Anknüpfungspunkt für das eine oder andere sein. Vielleicht gucken wir zum Ende hin noch – irgendwie kommen wir ja in diesem Podcast an Corona nicht vorbei, Herr Scherer.

Scherer: Also von mir aus hätten wir da heute gut einen Bogen drum machen können.

Nößler: Machen wir es vielleicht kurz zum Ende hin. Weil es gehört nun mal irgendwie dazu. Man merkt ja auch, gewisse Dinge renormalisieren sich. Wir ordnen viele Dinge auch ein, viele andere Themen drängen auch wieder in den Vordergrund. Aber tatsächlich, Corona ist ja ein ärztliches Thema, da müssen die Leute ja was tun. Und nun wissen wir von den 4 Millionen bekannten einstmals infizierten Menschen sind gut 90 Prozent im ambulanten Setting behandelt worden, die meisten davon bei den Hausärzten. Und jetzt kann man da natürlich diagnostisch, glaube ich, nicht wirklich einen großen Fehler machen, weil nach RKI-Empfehlung klinisches Bild, sofort Test. Das ist eine relativ klare Nummer. Aber jetzt haben wir ja die Situation, dass seit dem letzten Jahr in dem Bereich COVID-19 einfach auch geforscht wird mit Blick auf Therapie. Wir hatten da ganz schnell das Thema Dexamethason, Chloroquin war da irgendwie da mit drin. Remdesivir. Das ist jetzt nichts, was man mal so OTC mitnimmt. Wir hatten, glaube ich, auch Amoxicillin, ich weiß es gar nicht.

Scherer: Vitamin D, Budesonid, Fluvoxamin.

Nößler: Richtig. Also ein riesiges Füllhorn. Und es gibt wahnsinnig viel Literatur dazu. Es gibt auch ganz, ganz viele kleine S1-Leitlinien. Es gibt die Living-Guideline von der DEGAM, es gibt von der – ich weiß nicht, kennt jemand STAKOB, kennen Sie STAKOB, sagt Ihnen das was, Herr Scherer?

Scherer: Klar.

Nößler: Der ständige Arbeitskreis.

Scherer: Selbstverständlich.

Nößler: Ihnen sagt das was. Also das ist so für die absoluten Oberspezialisten. Das sind diese Kompetenzzentren für hochpathogene Erreger. Auch die haben eine Leitlinie, die ist krass, wenn man da reinschaut. Gibt es in so einer Zeit, in der wir uns jetzt befinden, überhaupt eine vernünftige Evidenzbasis, die dafür sorgt, dass man etwas nicht falsch macht? Ich formuliere die Frage mal so.

Scherer: Ihnen ist wahrscheinlich gar nicht bewusst, wie schön rund Sie das ganze Thema gerade machen. Weil es im Endeffekt hier um Sorgfalt geht, oder? Es geht um Sorgfalt und um eine Haltung. Und im Grunde genommen haben wir jetzt die ganze Zeit über ärztliche Sorgfaltspflichten gesprochen. Und genauso gibt es auch wissenschaftliche Sorgfaltspflichten. Es gibt jetzt nicht – darauf reagiere ich etwas allergisch – die Wissenschaft und die Wissenschaftsleugner und die Wissenschaftsgetreuen und diese ganze Polarisierung, diese ganze Schwarz-weiß-Malerei, die ist mir über. Die geht mir gegen den Strich. Die hat vieles kaputtgemacht, diese Schwarz-weiß-Malerei. Die Sache hat sehr viel mehr Grautöne. Grauzonen bedeutet aber nicht: Alles ist möglich, jeder kann machen, was er will. Sondern es geht hier um Sorgfalt. Und deshalb haben wir auch immer gesagt: Leute, lasst doch mal die STIKO arbeiten. Lasst sie doch einfach mal in Ruhe. Weil hier eine Systematik ist, weil hier wissenschaftliche Algorithmen abgearbeitet werden, weil hier ein interdisziplinäres Team zugange ist, lasst sie doch mal arbeiten. Und genauso ist es mit den Leitlinien auch. Ich kann zwar da nicht 100 Prozent der Versorgungsfragen abdecken, aber ich habe einen Grundstock an evidenzbasierten Empfehlungen, wo externe Evidenz und interne Evidenz eingegangen ist. Wo Studien eingegangen sind, die kritisch bewertet wurden, aber auch persönliche Erfahrungen eingegangen sind. Deshalb ist es vielmehr eine Frage der Haltung. Und wenn man jetzt sagt, okay, mir ist egal, was die STIKO macht oder ich gebe schon mal eine politische Empfehlung raus und jeder meldet sich zu Wort und weiß es besser als die STIKO, dann bringe ich da eine Unordnung ins System, die auch Vertrauen beschädigt und diesen Sorgfaltspflichten einfach nicht gerecht wird, diese Arbeitsteiligkeit, die es im System gibt.

Nößler: Also Sorgfaltspflicht mit Blick auf das Thema Impfung würde natürlich bedeuten ... Versuchen wir es mal anders: Wenn man jetzt über eine schwerkranke Person nachdenkt, die eine ganz spezifische Erkrankung hat, für die es so keine Leitlinien gibt – das erleben wir ja tatsächlich bei den seltenen Erkrankungen, das erleben wir bei speziellen Tumorentitäten, da ist das N so klein, da kann es keine großen Leitlinien geben. Da gibt es dann auch irgendwie so Pfade, die einschlagen, aber da sind wir ja in einem sehr spezialisierten, sehr stationären Setting.

Scherer: Oder denken Sie an den Leitlinien Multimorbidität, die dann eher generisch ist und ein Denkmodell anbietet.

Nößler: Die ein Denkmodell anbietet, wie man sich nähern kann. Am Ende, worauf ich eigentlich hinauswill, bei den ganz schwerkranken Menschen, da ist es ärztlich am Ende – auch aus Patientensicht – eher noch tolerierbar, dass man sich mit individuellen Heilversuchen im Zweifel nähert. Also wenn wir Richtung Palliativsituation gehen und man so den letzten Strohhalm greift, dann ist es ja was anderes im Zweifel, wenn der Patient dann auch zustimmt oder die Angehörigen, als wenn man jetzt bei einer gesunden Person eine Impfung verabreicht, für die es keine Empfehlung gibt. Das ist ja was ganz anderes.

Scherer: Das ist eben genau der Punkt, dass die Medizin nicht schwarz-weiß ist. Und dass man für jede Patientin und jeden Patienten das Beste gemeinsam herausholt, gemeinsam klug entscheiden, Patient als Partner, Shared decision-making, dass man sagt: Okay, das wissen wir aus unserer Erfahrung, das wissen wir aus Studien, wir gehen davon aus, dass hier eine entsprechende Chance besteht, dass sich die Situation durch eine bestimmte Therapie verbessert, es gibt die und die Risiken. Und da muss man unbedingt die Patienten mit ins Boot holen. Und versuchen dann, das gemeinsam abzuwägen. Also die Lösung ist dann das gemeinsame Sprechen darüber und das Thema, was wir eigentlich auch schon relativ oft hatten, die gemeinsame Entscheidungsfindung.

Nößler: Und das Dokumentieren.

Scherer: Das wäre eben gut, wenn irgendwo dann steht, was besprochen wurde, wo man ein Gefühl davon kriegt, was da eigentlich gelaufen ist.

Nößler: Was ich an der Stelle mitnehme, wir hatten eingangs die i.m.-Mischung aus Diclo und Dexa, die gerne auch genannte Tübinger Bombe, ganz klar Off-Label. Nicht nur Off-Label, weil es keine Indikation gibt, sondern weil es seit Ewigkeiten eben eine klare Ansage gibt: Finger weg, das gehört sich nicht, das ist verboten, das ist böse. Aber was ich da jetzt von Ihnen mitnehme, ist, es geht gar nicht um Off-Label und On-Label, das ist nicht der springende Punkt. Es kann Gründe geben, wo Off-Label richtig ist, wo das gemeinsam getragen wird. Es geht um die Frage, wie ist der Weg zu der Entscheidung?

Scherer: Ganz genau. Wir haben in unserer Living-Guideline COVID-19 haben wir Kann-Empfehlungen, die den Off-Label-Einsatz erlauben. Also zum Beispiel Budesonid bei COVID-Patienten und Fluvoxamin bei COVID-Patienten. Beides Off-Label. Evidenzbasis relativ dünn, das Bedürfnis, etwas in der Hand zu haben, ist groß. Also haben wir uns da in einer Mischung aus Top-down- und Bottom-up-Ansatz, auch in Kenntnis der Grauzonen, die es eben sehr oft gibt in der Versorgung, dann für diese Kann-Empfehlung entschieden.

Nößler: Es bleibt kompliziert. Aber es gibt einfache Tipps, um mit dem Komplizierten zurechtzukommen. Und einer der Tipps jetzt am Ende war: Seid sorgfältig, prüft die Dinge ab, denkt nicht binär, denkt nicht schwarz und weiß, stellt euch immer den Weg vor, den ihr gehen wollt und wenn ihr einen Weg geht, dann schreibt auf, wie ihr ihn gegangen seid.

Scherer: Genau. Und wenn ihr euch das selber durchlest in drei bis fünf Jahren, dass ihr euch selber wieder daran erinnern könnt und genau wisst, ja, aha, das habe ich gemacht aus dem und dem Grund und dazu stehe ich auch noch heute.

Nößler: Gute Gründe. Herr Scherer, super. Vielen Dank für diese Einblicke in die Gutachterei, in das Thema Arzthaftungsrecht, in ganz krasse, bösartige Fälle, die in die Hose gehen, aber eben auch die Grauzonen. Das war jetzt mal das Gespräch heute. Da bedanke ich mich sehr. Jetzt hätte ich fast gesagt, Sie brauchen den Vortrag gar nicht mehr hören, wir spielen den Podcast in Bad Orb.

Scherer: Nicht mehr halten.

Nößler: Nicht mehr halten, sorry. Sie müssten den nicht mehr halten. Soweit wollen wir dann nicht gehen. Ich glaube, Seminar, das wissen alle Zuhörerinnen und Zuhörer, ist noch mal was völlig anderes als ein Podcast, wo man noch ins Gespräch gehen kann, diskutieren kann. Aber der Podcast ist natürlich ein Hörtipp für alle Teilnehmer. Da kann man noch mal reinhören, sich das noch mal ein bisschen rekapitulieren, was Herr Scherer da gesagt hat.

Scherer: Beim Joggen, beim Rad fahren.

Nößler: Also, vielen Dank an dieser Stelle. Viel Freude, viel Erfolg in Bad Orb. Ich wäre dieses Jahr auch wieder gern dabei gewesen. Ich hoffe dann nächstes Jahr wieder, dieses Jahr passt es leider gar nicht. Ich richte Grüße aus nach Bad Orb. Ich würde mich natürlich freuen, wenn wir uns wieder hören an gleicher Stelle und auf gleicher Welle. Aber ich muss Sie natürlich fragen, wie das mit der Klippe ist und ob da jemand dranhängt.

Scherer: Möglicherweise ein stachliges Virus, was da baumelt.

Nößler: Oh, so was gibt es? Oje. Also, dann vielleicht mit Stacheln. Wir werden diese Klippe ganz genau betrachten. Herr Scherer, vielen Dank. Gute Reise! Bleiben Sie fröhlich und gesund! Und irgendwann bauen wir das Studio mal in Hamburg auf.

Scherer: Sehr gerne. Vielen Dank! War mir eine große Freude.

Nößler: Danke. Tschüss.

Scherer: Tschüss.

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