Pflegerats-Präsident Wagner

„Bei Ärzten hat sich die Wahrnehmung der Pflege verändert“

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) widmet den Weltgesundheitstag am 7. April den Pflegenden und Hebammen. Im Exklusiv-Interview mit der „Ärzte Zeitung“ sagt Deutschlands oberster Pflegevertreter Franz Wagner, was den Kollegen auf den Nägeln brennt – und wie er sich die Zusammenarbeit mit Ärzten vorstellt.

Thomas HommelVon Thomas Hommel Veröffentlicht:
Franz Wagner ist seit 2017 Präsident des Deutschen Pflegerates, davor war er Vizepräsident des Rates. Zudem ist er seit 2010 Vertreter des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe bei der European Federation of Nurses Association.

Franz Wagner ist seit 2017 Präsident des Deutschen Pflegerates, davor war er Vizepräsident des Rates. Zudem ist er seit 2010 Vertreter des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe bei der European Federation of Nurses Association.

© Annette Koroll FOTOS

Ärzte Zeitung: Herr Wagner, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) widmet den Weltgesundheitstag am 7. April den Pflegenden und Hebammen. Hat das mehr als symbolischen Wert?

Franz Wagner: Für die WHO hat das sicher größere Bedeutung. Sie ist bei dem Thema viel fortschrittlicher als die Bundesregierung. Die WHO fordert seit langem, dass Pflegende in der Versorgung chronisch Kranker eine stärkere Rolle spielen sollen. Dieses Plädoyer hat eine fast 20-jährige Tradition.

Ich denke da an das Konzept der Familiengesundheitspflegerin, die als gleichberechtigter Partner neben dem Hausarzt steht. Davon sind wir in Deutschland weit entfernt. Die WHO kann halt nur Empfehlungen aussprechen. Ob und wie das umgesetzt wird, liegt bei den Mitgliedsstaaten.

Gibt es denn Musterländer in Sachen Pflege?

Australien und Kanada wären zu nennen. Pflegekammern und Berufsordnungen sorgen dort dafür, dass Pflegende eine starke Rolle im Gesundheitssystem spielen. In Europa sind insbesondere die skandinavischen Länder vorbildlich. Die Aufgabenverteilung dort ist eine andere. Auch die Zusammenarbeit von Pflegenden und Ärzten wird anders verstanden und gelebt. Pflege und Medizin agieren auf Augenhöhe.

Man hat erkannt, dass unterschiedliche Perspektiven und Ressourcen gemeinsam einen Mehrwert in der Versorgung bringen. In Deutschland haben wir es oft mit Silos zu tun, die nebeneinander her arbeiten. Jeder macht seinen Schuh. Ein gleiches Paar wird daraus nicht unbedingt.

In diesen Tagen – Stichwort Coronavirus-Pandemie – treten Menschen an die Fenster und klatschen den Pflegenden Beifall. Nur eine Momentaufnahme?

Ich bin da ambivalent. Klar ist das eine Geste der Wertschätzung. Man möchte Pflegenden öffentlich danken, dass sie dieses Land mit am Laufen halten. Diese Wertschätzung ist nicht neu. Seit Jahren zählt Pflege zu den Top-Drei-Berufen, die in Umfragen als besonders vertrauenswürdig eingestuft werden. Woran es aber hapert – und da sehe ich den Bruch – ist die Bereitschaft, etwas an Rahmenbedingungen, Bezahlung und der Rolle von Pflege zu ändern.

Die Wahrnehmung vieler ist: Pflegende kümmern sich mit gutem Herz und warmen Händen um andere. Dass Pflegende einen klugen Kopf besitzen und über viele Qualifikationen verfügen, wird zu wenig gesehen. Deswegen hoffe ich, dass die Coronakrise nachhaltig etwas im Bewusstsein ändert und es endlich zu Veränderungen im Sinne der Pflege kommt.

Welche zum Beispiel?

Die Autonomie pflegerischen Handelns bis hin zur Übernahme heilkundlicher Aufgaben etwa. Die neue Infektionsschutzgesetzgebung für eine nationale Pandemie sieht das explizit vor, wenn auch im Extremfall. Über die Heilkundeübertragung diskutieren wir seit Jahrzehnten, ohne einen Schritt weitergekommen zu sein. Insofern hoffe ich, der abendliche Applaus bewirkt ein Umdenken.

Genießen Pflegende genügend Anerkennung seitens der Ärzte?

Das ist sehr unterschiedlich. Es hängt natürlich auch davon ab, wie lange man zusammenarbeitet und wie gut man sich kennt. An der Ärztebasis hat es Veränderungen in der Wahrnehmung von Pflege gegeben. Hier erlebe ich eine größere Bereitschaft für eine neue Form der Aufgabenverteilung.

Das muss jetzt aber auch in eine formale, eine rechtliche Form gekleidet werden, damit es nicht mehr abhängig ist von der zwischenmenschlichen Beziehung, die bilateral entsteht. Wir müssen strukturell etwas ändern und Gegensätze, die auf der Verbandsebene diskutiert werden, überwinden.

Wo drückt Pflegenden in Deutschland der Schuh am meisten?

Eindeutig bei der Personalausstattung! Wir haben nicht genügend Pflegefachpersonen für die vielen Patienten und Heimbewohner. Daher können viele Pflegende nicht mehr lege artis arbeiten. Sie gehen Kompromisse ein, überfordern sich selber oder unterversorgen Patienten. Das macht unzufrieden. Viele verkürzen die Arbeitszeit oder steigen aus. Klinikärzte klagen über ähnliche Zustände.

Machen junge Menschen auch deshalb einen Bogen um eine Ausbildung in der Pflege?

Ich bin überzeugt, dass das ein Grund ist. Es stimmt nachdenklich, wenn sogar in der Pflege tätige Menschen Mädchen und Jungen davon abraten, den Beruf zu ergreifen. Freilich: Es gibt in jeder Generation auch viele Menschen, nicht nur junge, die sich für Pflege interessieren.

Aus welchen Gründen?

Weil Pflege per se ein toller Beruf ist. Ich kann hier über eine 40-jährige Berufskarriere hinweg alle zwei Jahre etwas Anderes machen und bin immer noch nicht am Ende meiner Möglichkeiten. So eine Vielfalt, die man mit einer Kernkompetenz erwirbt, findet man selten. Auch das Maß an Sinnstiftung ist einmalig.

Die WHO empfiehlt, die Ausbildung von Pflegekräften und Hebammen an die Universitäten zu verlagern. Macht das Sinn?

Wir haben in Deutschland, auch dank der EU, erreicht, dass die Hebammenausbildung vollständig an die Hochschulen verlagert wird. Da gehört auch die Pflegeausbildung hin. Denn wir sind in einer Situation, wo die Anforderungen so hoch sind, wo sich Wissen so schnell erneuert, dass ich im Endeffekt nur über eine akademische Lehre in die Lage versetzt werde, Schritt halten zu können.

Die Widerstände kommen aus zwei Richtungen: Das eine ist das Bauchgefühl, wonach man für die Pflege von ein paar alten Leutchen nicht studiert haben muss. Zum anderen stemmen sich die Länder gegen eine Akademisierung – schon aufgrund der schieren Masse, um die es da geht.

Wir haben derzeit etwa 150.000 Ausbildungsplätze in der Pflege. Wenn wir versuchen würden, die in relativ kurzer Zeit an die Hochschulen zu verlagern, hätte das dramatische Folgen für die Länderhaushalte.

Wie könnte ein Kompromiss in der Sache aussehen?

Wir können uns eine stufenweise Verlagerung der Ausbildung an die Hochschulen vorstellen. Dafür spricht ja auch, dass wir Lehrende an den Hochschulen brauchen. Es helfen ja 150.000 Pflegestudienplätze nichts, wenn ich keine Professoren dafür habe.

Der Wissenschaftsrat empfiehlt einen Anteil akademisch ausgebildeter Pflegekräfte von bis zu 20 Prozent. Ich denke, das werden auf Dauer mehr sein müssen. Aber da liegt noch eine lange Reise vor uns.

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