Selbsthilfe-Podium

Arzneimittelversorgung: Lieferengpässe? Kein Grund für Panik!

Seit zwei Jahrzehnten kämpfen Apotheker damit, dass Medikamente fehlen. Sie haben gelernt damit umzugehen, zeigt sich beim Podium in Würzburg, und warnen davor, Alarm zu schlagen.

Michaela SchneiderVon Michaela Schneider Veröffentlicht:

Würzburg. Arzneimittel-Lieferengpässe? Das Thema sei alles andere als neu, sagt Dr. Mareike Kunkel, Leiterin der Apotheke am Universitätsklinikum Würzburg (UKW). Sie verweist auf einen Artikel in der Zeitschrift „Krankenhauspharmazie“ 2005. Detailliert wurde damals schon über Engpässe zwischen 2002 und 2004 berichtet. Das ist zwei Jahrzehnte her – und die Gründe damals wie heute ähneln sich. So lange ist Kunkel selbst noch nicht im Amt. Als sie 2016 den Posten am UKW in Würzburg antrat, wurde sie mit 35 Jahren jüngste Chefapothekerin an einer deutschen Universitätsklinik. Die sieben Jahre im Amt reichen, um zu wissen: Die Situation hat sich weiter zugespitzt.

Mehr als 500 Lieferengpässe werden auf PharmaNet.Bund aktuell gemeldet, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Das UKW selbst kämpft derzeit mit rund 100 Lieferengpässen, darunter etwa ein Viertel problematisch, sprich: Die Medikamente sind in einer bestimmten Stärke gar nicht mehr zu bekommen. Die Chefapothekerin bleibt gelassen: Das alles sei längst Dauerzustand, ihr Team wisse damit umzugehen. Die Patienten blieben gut versorgt.

Kunkel sitzt an diesem Abend mit den beiden Medizinern Professor Martin Kortüm, Inhaber des Lehrstuhls für Translationale Myelomforschung am UKW, sowie Professor Christoph Härtel, Direktor der Würzburger Universitäts-Kinderklinik, und Dr. Thomas Richter, niedergelassener Apotheker, in Würzburg auf einem Podium der UKW-Selbsthilfe. „Lieferengpässe bei Arzneimitteln – ist unsere Versorgung gefährdet? Was kommt auf uns zu?“ hinterfragen die vier im öffentlichen Gesundheitstalk.

„Infektwellen sind etwas Normales“

Dass das Thema Lieferengpässe medial zurzeit derart populär sei, liege wohl vor allem daran, dass Kinderärzte und Eltern Alarm geschlagen hätten, sagt Apotheker Richter, nachdem im April ein Versorgungsmangel mit antibiotikahaltigen Säften für Kinder festgestellt worden sei. Er bestehe nach wie vor, Alarm schlagen wolle beim Podium aber keiner, ganz im Gegenteil. „Wir müssen der Gesellschaft als Ärzte signalisieren: Infektwellen sind etwas Normales, das wir gut im Griff haben“, sagt Härtel. Öl ins Feuer zu gießen, wirke konträr. Bloß nicht hamstern, appelliert er an die Öffentlichkeit. Auch habe er Patienten im Vorjahr abgeraten, Antibiotika im Ausland zu besorgen, das sorge für zusätzlichen Mangel und heize den Wettbewerb erst recht an.

Härtel hält ein anderes für deutlich wichtiger – das aufklärende Gespräch mit den Eltern: „Ein Kind braucht nicht unbedingt Hustensaft, sondern vor allem Ruhe.“ Hustensaft sei vor allem deshalb begehrt, weil die Eltern so schnell wie möglich wieder zurück in den Alltag kehren wollten. Die Aufgabe des Arztes sei es hier auch, zu beruhigen: Deutschland sei ein Land, das weiter eine adäquate Behandlung bieten könne.

Vielfältige Gründe

Corona mag als ein Brandbeschleuniger gewirkt haben. Doch sei das Thema der Lieferengpässe ein altes und die Gründe dafür laut Kunkel vor allem eins – vielfältig. Sie nennt die Konzentration auf wenige oder auch singuläre Herstellstätten und Produzenten, geringe Lagermengen beim Hersteller, Qualitätsprobleme und Produktionsausfälle, Probleme bei der Beschaffung von Rohstoffen und Hilfsmitteln, regulatorische Auflagen und die Verschärfung der Vorschriften für die gute Herstellungspraxis, logistische Probleme, eine gestiegene Nachfrage, Rabattverträge (Apotheker Richter: „Die Preisschraube wurde hier überdehnt!“), zu hohe, aber auch zu niedrige Preise, veränderte Unternehmensstrategien.

Am Uniklinikum – und das bestätigt so auch Onkologe Kortüm – bekämen Patienten von den logistischen Herausforderungen, die im Hintergrund zu bewältigen seien, in der Regel nichts mit. Schmerzsäfte etwa seien in der Uniklinik-Apotheke bei Engpässen auch schon selbst hergestellt worden. Und: In den meisten Fällen gebe es gute Ausgleichstherapien, die Rücksprachewege mit den behandelnden Ärzten am Universitätsklinikum seien dann kurz.

„Wir schicken Zellen um die ganze Welt“

Gern werde die Globalisierung als Sündenbock für Lieferengpässe herangezogen – in Würzburg schaut man darauf differenziert. „Die Idee, dass alle Medikamente irgendwann lokal hergestellt werden, ist Unsinn“, nimmt Onkologe Kortüm kein Blatt vor den Mund. Globalisierung bedeute auch Vorteile. „Wir schicken Zellen um die ganze Welt, wir holen uns Therapien aus der ganzen Welt. Das ist Globalisierung.“ Aus einer Behandlung seien heute 20 geworden, Diversität sei sinnvoll. Eine Verlagerung der Arzneimittelproduktion nach Europa würde mit einer massiven Preissteigerung einhergehen, spiegeln würde sich dies wohl in steigenden Krankenkassenbeiträgen, gibt überdies Apothekerin Kunkel zu bedenken. Auch die Deutschen als Europameister in Sachen Arztbesuche und zu hohe gesellschaftliche Erwartungshaltungen kommen zur Sprache.

ALBVVG kein schnelles Heilmittel

Und die Politik? Die hatte 2020 zunächst mit dem „Fairer-Kassen-Wettbewerbgesetz“ reagiert, einen Beirat zur kontinuierlichen Beobachtung und Bewertung der Versorgungslage mit Arzneimitteln eingerichtet, die Befugnisse des BfArM erweitert – unter anderem durch die Anordnung der Kontingentierung von Arzneimitteln, Maßnahmen zur Lagerhaltung, verschiedenen Mitteilungspflichten zu Beständen, Produktion und Absatzmenge sowie der Information zu drohenden Lieferengpässen. Auch darf die Apotheke seither ein wirkstoffgleiches Arzneimittel abgeben, wenn ein rabattiertes Arzneimittel nicht verfügbar ist.

Und richten soll es nun überdies langfristig Karl Lauterbachs „Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfung- und Versorgungsverbesserungsgesetz“ (ALBVVG) mit einem umfassenden Maßnahmenkatalog für BfArM, Krankenhaus-Apotheken, pharmazeutische Unternehmer, öffentliche Apotheken, Krankenkassen, den Großhandel und die Patienten. „Die Entwicklung der Lieferengpässe reicht ins 20. Jahrhundert zurück. Das bekommt man nicht schnell mit einem neuen Gesetz in Griff“, vermutet Apotheker Richter. „Das Gesetz ist langfristig gedacht und soll die letzten 20 Jahre ausgleichen“, ergänzt Chefapothekerin Kunkel.

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