Bleibt am Ende nur die Basis-GKV? Schweden geht einen anderen Weg

Wie reagieren andere Länder auf steigende Kosten im Gesundheitswesen? Ein neuer Sammelband zeigt die Priorisierungsdebatten in Deutschland und Schweden im Kontrast.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Der Reichstag in Stockholm. Hier wurden im Jahr 1997 die Weichen für eine Priorisierung im schwedischen Gesundheitswesen gestellt. © blickwinkel / imago

Der Reichstag in Stockholm. Hier wurden im Jahr 1997 die Weichen für eine Priorisierung im schwedischen Gesundheitswesen gestellt. © blickwinkel / imago

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NEU-ISENBURG. Vielstimmig ist der Chor der Ärztefunktionäre in Deutschland, die nach einer "Basisversorgung" in der Gesetzlichen Krankenversicherung rufen. Anders sei die Versorgung bei der derzeitigen Finanzierung künftig nicht mehr sicherzustellen. Unisono die Antwort aus der Politik: Gibt es nicht, machen wir auch künftig nicht.

In dieser dogmatisch verhärteten Debatte kann eine neue Publikation den Horizont weiten: Der von Professor Heinz Lohmann und Dr. Uwe Preusker herausgegebene Sammelband "Priorisierung statt Rationierung: Zukunftssicherung für das Gesundheitssystem" bietet vielfältige Anregung, den Blick über Deutschland hinaus zu werfen.

Die gleichsam regierungsamtliche Lesart des Problems präsentiert Dr. Klaus Theo Schröder, Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium bis Oktober 2009. Er weist den Vorwurf, Ärzte müssten angesichts der Ausgabenbegrenzung "verdeckt" rationieren, als "nicht gerechtfertigt" zurück. Stattdessen verweist Schröder auf die Reformschritte der vergangenen Jahre, vor allem auf das Wettbewerbsstärkungsgesetz. Der Weg, die Versorgung ohne Rationierung zu sichern, führt für ihn "über eine konsequente Ausrichtung an Nutzen und Kosten von Therapien und eine stärkere Orientierung an Leitlinien".

Die ärztliche Sichtweise vertritt Professor Christoph Fuchs, Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer. Für ihn liegen die Vorteile einer Rangfolge von Leistungen im Sinne einer Priorisierung "vor allem in der Transparenz des Verfahrens sowie in der Chance der Gleichförmigkeit von Verteilungsentscheidungen". Dafür zitiert Fuchs ausführlich die Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission (ZEKO) Bundesärztekammer aus dem Jahr 2007. Darin hat die ZEKO formale und inhaltliche Kriterien für eine Prioritätensetzung bestimmt. Ihre Schwachstelle hat die Position in ihrer fehlenden institutionellen Verankerung. Fuchs schlägt, wie der Deutsche Ärztetag im Jahr 2009, einen "Gesundheitsrat" vor, der im "vorpolitischen Raum" Empfehlungen abgeben soll. Gemeinsamer Bundesausschuss, IQWiG oder das Bundesgesundheitsministerium kommen aus seiner Sicht "nicht in Frage". Über die einzig legitime Volksvertretung, den Bundestag, heißt es, dieser wäre mit der Erarbeitung von Priorisierungsentscheidungen "überfordert".

Heinz Lohmann/Uwe Preusker (Hrsg.): Priorisierung statt Rationierung: Zukunftssicherung für das Gesundheitssystem. Economica-Verlag. Heidelberg 2010. ISBN 978-387 081 5899.

Ganz anders stellt sich das Vorgehen der skandinavischen Länder dar. Der Herausgeber Preusker, der selber in Nordeuropa gearbeitet hat, sowie der Kardiologe Professor Jörg Carlsson, der im Landeskrankenhaus in Kalmar tätig ist, zeichnen die Debatte in Schweden nach.

Dort wird der öffentliche Diskurs "mit der Überzeugung geführt, dass Priorisierung unausweichlich ist", erläutert Preusker. Entsprechend mündete eine mehrjährige Debatte bereits 1997 in einem Beschluss des schwedischen Reichstags, der die Grundprinzipien der Priorisierung in einem Gesetz formuliert hat. In absteigender Rangfolge sind dies: das Prinzip der Menschenwürde, das Bedarfs- oder Solidaritätsprinzip sowie das Prinzip der Kosteneffektivität.

Auf der Basis dieser gesetzlichen Grundlage konnten Ärzte, Gesundheitsökonomen und eigens errichtete Institutionen aufbauen, als sie in den folgenden Jahren eine Kardiologie-Leitlinie formuliert haben. Diese enthält eine Priorisierungsliste von Maßnahmen bei der Vorbeugung, Diagnostik, Behandlung und Reha von Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen. Seit die Leitlinie 2004 veröffentlicht wurde, beobachtet der Kardiologe Carlsson eine "landesweite Verbesserung und Angleichung der Behandlungsstandards". Es gehe eher um die "geordnete, landesweite Einführung neuer (Behandlungs-) Methoden als um deren Begrenzung oder Rationierung". Nicht staatliche Vorgaben sondern ein intraprofessioneller Diskurs von Ärzten ist Motor der Priorisierungsdebatte gewesen.

Beeindruckt vom schwedischen Vorgehen zeigt sich der Arzt und SPD-Politiker Dr. Wolfgang Wodarg, der bis Oktober 2009 Mitglied des Bundestags gewesen ist. Der "vorbildliche Reformweg" dort sei auch für Deutschland eine "verfassungskonforme Lösung". Das Urteil über das heimische Gesundheitswesen dagegen ist harsch: "Versorgungs-Drückebergerei als versteckte Priorisierung ist im GKV-System gesetzlich angelegt und aus betriebswirtschaftlicher Sicht vernünftig." Mit seiner Aussage, Priorisierung müsse sein -  "aber transparent und demokratisch" - , lehnt sich der der SPD-Linken zuzurechnende Politiker weit aus dem Fenster. In seiner Partei, wie im Bundestag insgesamt, dürfte dies bisher keine Mehrheitsmeinung sein.

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