Kinder mit seltenen Erkrankungen

Bonn spielt den Detektiv

Ausgrenzung, Stigmatisierung, Probleme in der Schule – wenn bei kranken Kindern partout keine Diagnose gestellt werden kann, bietet das Bonner Zentrum für seltene Erkrankungen Hoffnung. Hier wurde jetzt eine Abteilung eigens für Kinder eröffnet.

Von Nina Nöthling Veröffentlicht:
Bei der Eröffnung diskutierten Lisa Kirsche (links) und Leo von Braun mit.

Bei der Eröffnung diskutierten Lisa Kirsche (links) und Leo von Braun mit.

© Nina Nöthling

BONN. Es ist Detektivarbeit, was die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Interdisziplinären Kompetenzeinheit für Patienten ohne Diagnose (InterPoD) am Universitätsklinikum Bonn leisten. Sie versuchen, aus Badewannen voller medizinischer Unterlagen Muster und Zusammenhänge zu erkennen, die Hinweise auf eine Krankheit geben.

Das InterPoD ist Teil des Zentrums für seltene Erkrankungen Bonn (ZSEB). Die Akten mit Befunden, Analysen und Berichten, die beim ZSEB eingehen, gehören Patienten, die seit Jahren oder Jahrzehnten unter Beschwerden leiden, aber bisher keine Diagnose haben. Seit Mittwoch hat das InterPoD eine eigene Abteilung für Kinder mit einer seltenen Krankheit.

Fünf von 10.000 betroffen

„Zum Glück brauchen Kinder meistens keine Detektive“, sagte Professor Lorenz Grigull, Oberarzt für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie an der Medizinischen Hochschule Hannover, auf der Eröffnungsveranstaltung des InterPoD Kids in Bonn. „Aber es gibt Situationen, da reichen gesunde Ernährung, Bewegung, frische Luft, Familie und nette Lehrer nicht aus.“

Als selten gelten Krankheiten, wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen davon betroffen sind. In Europa sind zwischen 6000 und 8000 solcher seltenen Erkrankungen bekannt. Dem gegenüber stehen nur 160 Orphan Drugs für gezielte medikamentöse Versorgung.

Rund 75 Prozent der Erkrankungen betreffen Kinder. Das liegt auch daran, dass rund 80 Prozent der seltenen Krankheiten erblich bedingt sind. Von den betroffenen Kindern sterben um die 30 Prozent vor dem fünften Lebensjahr.

„Der Zugang zu geeigneten Spezialisten hängt viel zu oft vom Zufall und dem individuellen Engagement ab“, beklagte Dr. Christiane Stieber, Koordinatorin des ZSEB. „Wir möchten den Kindern aber schnell helfen, denn gerade bei diesen Patienten kann eine frühe Diagnose den weiteren Verlauf der Krankheit entscheidend beeinflussen, im günstigen Fall bis hin zur vollständigen Heilung.“ Genau das ist die Aufgabe des InterPoD Kids.

Langer und leidvoller Weg

Die Gründung des Spezialzentrums hat die Stiftung „Kinderträume“ ermöglicht. Bisher fehlten dem ZSEB die finanziellen Mittel für ein eigenes Zentrum für Kinder, sagte Dr. Martin Mücke, ärztlicher Leiter des ZSEB. „Kinderträume“ stellt über zwei Millionen Euro für das InterPoD Kids zur Verfügung.

Die Stiftung Kinderträume wurde von Franz-Josef Wernze und seiner Steuerberatungsgruppe ELT 2008 ins Leben gerufen.

Im InterPoD Kids stehen ein Kinderarzt und ein Team aus fortgeschrittenen Medizinstudenten ausschließlich für die jungen Patienten zur Verfügung. Außerdem begleitet ein Psychologe die Kinder und deren Angehörige. Seltene Krankheiten zu diagnostizieren ist schwer. „Der Weg zur Diagnose ist lang und leidvoll“, berichtete Grigull.

Plötzliche Lichtempflindlichkeit

Das liege zum einen daran, dass Testergebnisse, Befunde und Kompetenzen nicht an einem zentralen Ort zusammenlaufen, wie der Fall Katharina zeigt. Sie war ein Wunschkind, während der Schwangerschaft und Geburt gab es keinerlei Schwierigkeiten.

Zehn Tage nach der Geburt fing sie allerdings an, sehr lichtempfindlich zu sein, mit zwei Monaten bekam sie die erste Mittelohrentzündung, kurz darauf litt sie unter Schleim und Blut im Urin sowie einer Beule auf dem Rücken. „Aber das eine Problem wurde vom Orthopäden behandelt und das andere vom HNO-Arzt“, erklärte Grigull. „Keiner bündelt so etwas.“

Erst mit 13 Monaten haben Katharinas Eltern endlich die Diagnose Mucopolysacharidose Typ Hurler bekommen. „Das waren 13 Monate, in denen die Krankheit fortschreiten konnte.“

Patienten ohne Diagnose leiden nicht nur unter ihrer Krankheit, sondern auch unter Stigmatisierung und Ausgrenzung aus der Gesellschaft. So musste sich die 14-jährige Lisa Kirsche von Ärzten anhören, sie bilde sich ihre Symptome nur ein, berichtete sie auf der Eröffnungsveranstaltung.

Auch in der Schule kann es Probleme bereiten, wenn die Kinder ständig fehlen, ohne eine konkrete Diagnose zu haben, berichtet Dagmar Kirsche, Nachsorgeleiterin beim Bunten Kreis Rheinland. „Wir unterstützen die Eltern in solchen Fällen gerne und reden mit der Schulleitung.“

Stiftung Kinderträume

  • Gründung: Die Stiftung wurde 2008 von Franz-Josef Wernze und seiner Steuerberatungsgruppe ELT gegründet.
  • 250 Hilfsprojekte wurden bereits unterstützt und eine Millionen Euro an Spenden eingesammelt. Gefördert werden beispielsweise Urlaube von Familien mit Kindern mit medizinischen Indikationen aus sozial benachteiligten Umfeldern.
  • Für das InterPoD Kids hat Kinderträume eine Förderung in Höhe von 300.000 Euro jährlich für die kommenden sieben Jahre zugesagt.
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