Report der Uni Frankfurt

„Chronisch krank“ ist kein definierter Begriff

Die Chroniker-Versorgung steht wissenschaftlich noch nicht auf festem Grund. Ein Leitfaden der Universität Frankfurt will an dieser Stelle Licht ins Dunkel bringen.

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Viele Menschen leiden unter chronischen Rückenschmerzen. Aber ab wann gilt eine Krankheit als chronisch? Frankfurter Wissenschaftler wollen Licht ins Dunkel bringen.

Viele Menschen leiden unter chronischen Rückenschmerzen. Aber ab wann gilt eine Krankheit als chronisch? Frankfurter Wissenschaftler wollen Licht ins Dunkel bringen.

© Janina Dierks / stock.adobe.com

Berlin. Ein Drittel der AOK-Versicherten zwischen 18 und 59 Jahren waren im Jahr 2016 wegen chronischer Rückenbeschwerden in Behandlung beim niedergelassenen Arzt oder im Krankenhaus, ein Fünftel wegen Gelenkerkrankungen und ein Sechstel wegen Bluthochdruck.

Das geht aus aktuell veröffentlichten Recherchen Frankfurter Wissenschaftlerinnen hervor. Bei rund 27 Millionen AOK-Versicherten können diese Werte als repräsentativ gelten.

„Chronisch“ gilt als undefiniert

Die Zahl chronisch Erkrankter und das Ausmaß an Multimorbidität gelten als wesentliche Grundlagen von Strukturentscheidungen im Gesundheitswesen. Das Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt macht nun in einem Report darauf aufmerksam, dass sich sowohl diese Begriffe als auch die dahinter stehenden Inhalte einem „sicheren Zugriff“ entzögen.

„Überraschenderweise“ existiere für den Ausdruck „chronisch krank“ weder auf internationaler noch auf nationaler Ebene eine einheitliche Definition. Gilt chronisch schon ab einem Jahr des Leidens? Oder doch schon ab sechs Monaten oder erst ab zwei Jahren? Als sicher gelte nur, dass chronisch kranke Menschen oft unter lebenslanger medizinischer Kontrolle und Behandlung stehen.

Vergleichbarkeit ist erschwert

Das erschwere die Vergleichbarkeit auch wissenschaftlicher Aussagen zu chronischen Krankheiten. „Wir möchten mit diesem Bericht einen laienverständlichen Pfad durch den Dschungel aus Datenquellen, Definitionen und verschiedenen Kennzahlen zu chronischen Krankheiten bahnen“, kommentieren die Autorinnen Dr. Corina Güthlin, Dr. Susanne Köhler und Mirjam Dieckelmann das Projekt.

Valide Erkenntnisse wären in der Tat hilfreich. Allein die Rückenbeschwerden schlagen hochgerechnet mit rund elf Milliarden Euro (2015) zu Buche. Insgesamt addieren sich die Ausgaben für die fünf Krankheiten mit den höchsten Krankheitskosten auf 55,7 Milliarden Euro im Berichtsjahr. Spitzenreiter ist die Demenzbehandlung mit 15,1 Milliarden Euro (siehe Grafik).

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Sponsor will Verständnis fördern

Mit dem Kompendium „Chronisch Kranksein in Deutschland Zahlen, Fakten, Versorgungserfahrungen“ wollen die Frankfurter blinde Flecken an dieser Stelle ausleuchten helfen. Den Anstoß dazu hat die Robert Bosch Stiftung gegeben, die das Projekt auch gefördert hat.

„Wir haben den Report gefördert, um durch eine kompakte Übersicht und einen leichten Zugang ein besseres Verständnis für die Situation und die Versorgungserfordernisse bei chronischer Erkrankung zu erzielen“, sagt Dr. Bernadette Klapper, Bereichsleiterin Gesundheit bei der Robert Bosch Stiftung GmbH.

Der Leitfaden gliedert sich in eine Bestandsaufnahme, in die Analyse der vier Krankheitsgruppen Krebs, Muskel-Skelett-System, Herz-Kreislauferkrankungen und Psychische Erkrankungen und ein Kapitel, das die Patientenperspektive auf die verschlungenen Versorgungspfade einnimmt.

Suche nach Psychotherapieplatz für viele Betroffene eine Tortur

Die Berührungspunkte zwischen chronisch Erkrankten oder ihren Angehörigen und Betreuern und dem Versorgungssystem sind Legion. Sie reichen von der Arztpraxis über die Pflege bis zum Sozialgericht.

Die Kontakte verlaufen aus der subjektiven, in Interviews ermittelten Perspektive der Patienten nicht immer glücklich. Psychisch erkrankte Menschen zum Beispiel beschreiben die Suche nach einem Psychotherapieplatz als Tortur. Andere empfinden ein Zuviel an Therapie und Stationen im Versorgungssystem als belastend. (af)

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