Laufen ist out

Deutschland sitzt sich krank!

Manche gehen kaum mehr als die paar Meter zwischen Kühlschrank und Sofa zu Fuß. Fernsehen zählt mehr als Fitness, hat eine Forsa-Umfrage ergeben. TK-Chef Jens Baas denkt schon über eine Aufstockung der Präventionsausgaben seiner Kasse nach.

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Im Schnitt sitzen Deutsche sieben Stunden pro Tag.

Im Schnitt sitzen Deutsche sieben Stunden pro Tag.

© apops/ fotolia.com

BERLIN. In Deutschland entwickelt sich eine Gesellschaft aus überzeugten Sporttreibenden und Sportmuffeln. Diesen Schluss zieht der Vorstandsvorsitzende der Techniker Krankenkasse, Dr. Jens Baas, aus den Ergebnissen einer Forsa-Umfrage.

Vier von zehn Menschen im Land sind demnach am Tag weniger als eine halbe Stunde in Bewegung, jeder sechste sogar weniger als 15 Minuten. Darin sind die Gänge zum Kopierer oder in die Teeküche bereits eingerechnet.

Der Durchschnittsdeutsche sitzt sieben Stunden am Tag, jeder dritte Berufstätige sogar neun Stunden und länger. "Wir sitzen uns krank", sagte Baas bei der Vorstellung der Studie am Dienstag in Berlin.

Rolltreppe, Auto, Bildschirm und Sofa seien die natürlichen Feinde eines bewegten Alltags.

Mehr Geld von Kassen für Prävention?

Die Unlust der Versicherten, sich zu bewegen, schlägt sich direkt in den Zahlen der zweitgrößten Krankenkasse nieder. Ab Mitte 40 leide bereits jeder Zweite unter Beschwerden im Bewegungsapparat, geht aus der Studie hervor.

Jeder Vierte sieht sich als übergewichtig, schlapp und schlafgestört. Stress und Burn-out greifen um sich. Die Studie könne zwar nicht beantworten, ob einer keinen Sport treibe, weil er Beschwerden habe, oder einer Beschwerden habe, weil er keinen Sport treibe.

Sie mache aber deutlich, dass unter den Bewegungsmuffeln mehr Kranke seien als unter den aktiven Menschen.

Deshalb kann sich Baas vorstellen, die Ausgaben der von ihm geführten Kasse für Prävention in Betrieben, Kindergärten und Schulen von derzeit etwas über drei Euro zu erhöhen. "Sechs Euro je Versichertem wären kein schlechter Betrag", sagte Baas am Dienstag.

Das Geld dürfe dann aber nicht in Werbemaßnahmen versickern. Die notwendige Gesundheitsprävention könne die gesetzliche Krankenversicherung nicht alleine stemmen.

Die schwarz-gelbe Koalition ist in dieser Legislaturperiode mit dem Entwurf eines Präventionsgesetzes am Widerstand des Bundesrates so gut wie gescheitert.

Der Entwurf hatte vorgesehen, die Kassen zu Präventionsausgaben von zwischen sechs und sieben Euro je Versicherten zu verpflichten, die gezielt in die betriebliche Gesundheitsförderung und die Prävention in Lebenswelten hätten fließen sollen.

Eine Bevölkerungsgruppe hat sich verabschiedet

Für Baas ist besonders bedenklich, dass sich eine ganze Bevölkerungsgruppe von der Bewegung im Alltag verabschiedet habe. Dies sei auch eine Frage des Kopfes, der Haltung, sagte Baas.

Das Argument ziehe nicht, zu wenig Zeit für Sport in der Freizeit zu haben -wie etwa 55 Prozent der Befragten vorgaben. Tatsächlich zeigten die Umfrageergebnisse, dass gerade die beruflichen Vielsitzer mehr Freizeit vor dem Bildschirm verbrächten als andere.

Auch im Urlaub änderten die meisten ihr Verhalten nicht. Wer sich in seinem Umfeld in der Heimat viel bewege, tut es auch am Urlaubsort. Die anderen sitzen auch die Ferien ab.

Den Stillstand im Alltag empfindet die Mehrheit der Menschen dennoch als Verlust. "Zwei Drittel der Vielsitzer bedauern den Bewegungsmangel und hätten gerne einen bewegteren Joballtag", sagte Forsa-Geschäftsführer Professor Manfred Güllner.

Befragt hatte Forsa 1003 Erwachsene in Deutschland. Dies gilt als repräsentativ.

Sportlerin will Vorbild sein

Die Menschen zu mehr Bewegung zu motivieren, sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sagte Magdalena Neuner, mehrfache Olympiasiegerin und Weltmeisterin im Biathlon.

Sie selbst hoffe als erfolgreiche Sportlerin eine Vorbildfunktion einzunehmen. "Es muss ja nicht gleich ein Marathon sein, aber mehr Bewegung im Alltag macht einen Unterschied", sagte Neuner, die im vergangenen Jahr ihre Karriere beendet hat.

Die Gegenstrategien sind begrenzt. Die Bewegungsarmut beginnt bereits in jungen Jahren. "Die motorischen Fähigkeiten von Kindern nehmen ab", sagte Baas. Das gehe aus den Auswertungen der Vorsorgeuntersuchungen seiner Kasse hervor.

Mit rund 40.000 Kursen versuche allein die Techniker Krankenkasse ihre Mitglieder in Bewegung zu halten. Baas räumte ein, dass diese Angebote vor allem die erreichten, die ohnehin Sport trieben.

Die Ergebnisse der Forsa-Umfrage in Kürze:

› Die Sportmuffel sind in der Mehrheit. 54 Prozent treiben keinen Sport. 20 Prozent bezeichnen sich als Anti-Sportler. Vor sechs Jahren gaben noch 56 Prozent der Befragten an, Sport zu treiben.

› 40 Prozent der Menschen in Deutschland gehen alltägliche Wege bewusst zu Fuß oder legen sie mit dem Rad zurück. Die Mehrheit will schnell ans Ziel und nutzt das Auto auch für kurze Distanzen und kleine Besorgungen.

› 53 Prozent halten die zurückzulegenden Strecken für zu lang, um sie zu gehen oder mit dem Rad zu fahren. Zeitmangel sehen 46 Prozent als Hindernis für Bewegung. Jeder Vierte gibt körperliche Einschränkungen oder mangelnde Motivation als Hinderungsgrund an.

› Gefühlte 3,2 Stunden verbringt der Durchschnittsdeutsche täglich vor Fernseher, Laptop, Tablet oder Handybildschirm. Tatsächlich sind es wohl mehr.  37 Prozent der Männer verbringt mehr als vier Stunden täglich vor dem Fernseher oder im Internet. Bei den Frauen sind es 31 Prozent.

› 44 Prozent der Beschäftigten sitzt bei der Arbeit. Vor sechs Jahren hatte dieser Wert noch bei 33 Prozent gelegen. Mehr als die Hälfte der Beamten sitzt "intensiv", sagt Forsa-Geschäftsführer Manfred Güllner.

Allerdings fahren zumindest die "grün-affinen" Beamten am häufigsten mit dem Fahrrad zur Arbeit (gilt nur für Berlin). Auf der anderen Seite bewegen sich 67 Prozent der Arbeiter an ihren Arbeitsplätzen viel. (af)

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Darf die Glotze gewinnen?

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