Kolumne aus Berlin
Die Glaskuppel über Notpflaster für die Sozialversicherungen: Nachhaltig geht anders
Die Koalition greift bei der Finanzierung der Gesundheitsversorgung zur Notlösung. Darlehen helfen dem Finanzminister, den Haushalt buchhalterisch aufzuhübschen. Versorgungszielen und ihrer nachhaltigen Finanzierung dient das eher nicht.
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Unter der Glaskuppel des Reichstages stehen bald auch Entscheidungen zur Zukunft der Sozialversicherungen an.
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Dem Bundestag steht nach der Sommerpause ein Herbst der Haushaltspolitik bevor. Ende September sollen die Abgeordneten unter der Glaskuppel über den Haushalt 2025 entscheiden. Zwei Monate später – für Ende November – steht der Haushalt 2026 zur Abstimmung. Der gesetzlichen Krankenversicherung weht jetzt schon schneidend kalter Wind entgegen.
Die verbliebenen 94 Krankenkassen sollen in diesem und im kommenden Jahr über den regulären Bundeszuschuss von 14,5 Milliarden Euro lediglich Darlehen in Höhe von jeweils 2,3 Milliarden Euro erhalten, für die Pflegekassen sind zusammen zwei Milliarden Euro vorgesehen.
Auf Kassenseite stoßen die Haushaltspläne auf Unverständnis. „Wieder einmal macht sich die Bundesregierung (…) einen schlanken Fuß und übernimmt nicht ihre Verantwortung für gesamtgesellschaftliche Aufgaben“, hat sich der neue Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes Oliver Blatt zu Wort gemeldet. Darlehen seien keine „nachhaltige Lösung“, warnte Blatt jüngst vor möglichen Verpuffungseffekten des Regierungsansatzes.
Kredite sind Nichtlösungen
„Die vorgesehenen Darlehen für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung sind nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein“, hat die Techniker Krankenkasse (TK) auf Anfrage der Ärzte Zeitung die Haushaltsansätze eingeordnet.
Die Summen würden nicht einmal ausreichen, um die Beiträge kurzfristig zu stabilisieren und die aufgebrauchten Rücklagen wieder aufzufüllen. Vor allem in den Krankenhäusern, bei Arzneimitteln und in der ambulanten Versorgung stiegen die Kosten viel zu stark.
Defizit bei Sozialversicherungen
Finanzminister Klingbeil sieht keine „deutlichen Beitragssatzsteigerungen“
Zum Jahreswechsel müssten die Beiträge voraussichtlich um durchschnittlich 0,2 bis 0,4 Prozent angehoben werden. Immer vorausgesetzt, die Politik, sprich der Bundestag, steuere nicht noch entgegen. Gleiches gelte auch für die Pflegeversicherung, wo die Darlehen lediglich eine „Verschnaufpause für die Beiträge“ bedeuteten.
Kurios: Schuldner verleiht Geld
„Kredite sind keine Lösung für das strukturelle Finanzdefizit, da sie die Probleme nur in die Zukunft verschieben“, hat daher TK-Chef Dr. Jens Baas gegenüber der Ärzte Zeitung vor möglichen Spätfolgen gewarnt. Für eine „echte und schnelle“ Entlastung müsste der Bund zunächst einmal seine Schulden begleichen, so Baas.
Tatsächlich mutet der Staat den gesetzlich Versicherten einiges zu. Sie bezahlen aus ihren ständig steigenden Beiträgen und Zusatzbeiträgen einen erheblichen Teil der Krankenversicherungsbeiträge für die Empfängerinnen und Empfänger von Bürgergeld. Rund zehn Milliarden Euro im Jahr fehlen an dieser Stelle zur Kostendeckung. Und das bereits seit einigen Legislaturen.
Bei der Pflege ebenfalls in der Kreide
Und das ist nicht der einzige offene Posten. Bei den Beitragszahlenden zur sozialen Pflegeversicherung (SPV) steht der Staat ebenfalls in der Kreide. Bis zu sechs Milliarden Euro haben die Pflegekassen dem Bundeshaushalt allein an Coronahilfen ausgelegt. Hinzu kommen Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige, die die Pflegekassen im Jahr mit deutlich mehr als drei Milliarden Euro belasten.
Exklusiv Ruf nach Vorschaltgesetz
Kassenchef Storm: Ausgabenanstieg in der GKV nicht zu begrenzen, wäre irrational
Die Bundesregierungen der jüngeren Vergangenheit gehen allerdings einen anderen Weg, als Baas fordert. Ihr Motto heißt: Ich leihe mir bei den Beitragszahlenden Geld. Aber anstatt es zurückzuzahlen, biete ich meinen Gläubigern einen Kredit an. Das ist irgendwie schräg!
Kredite sind wirtschaftlich nur dann sinnvoll, wenn die Empfänger sich damit aus einer akuten Liquiditätsklemme befreien können; und dies mit der Aussicht, künftig mehr Geld zur Verfügung zu haben, um ihren Rückzahlungsverpflichtungen nachkommen zu können. Bei steigenden Gesundheitskosten ist das nicht der Fall.
Aufgezwungene Verschuldung
Was bedeutet also die aufgezwungene Verschuldung für die gesetzlichen Kassen? Um die Darlehen bedienen zu können, werden sie Beiträge erhöhen oder ihre Leistungen kürzen müssen. Gesundheitspolitikerinnen und -politiker aller Fraktionen des Bundestags wissen eines genau. Von jetzt auf nachher können sich die Krankenkassen keine neuen finanziellen Spielräume eröffnen.
Mit der Entscheidung für die Darlehen und damit für den Verzicht auf einen erhöhten Steuerzuschuss, sind auch weitere Optionen, die Einnahmenseite der GKV zu verbreitern vorerst politisch aus dem Rennen.
Möglich wären auch das Anheben der Beitragsbemessungsgrenze, die sogenannte Verbeitragung von Zinseinkünften, Mieten und weiterer Geldquellen sowie die Einführung der Bürgerversicherung.
Ein weiterer Fakt von großer Bedeutung: Die Wachstumsraten der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung liegen nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft von Ende 2023 bereits seit zwei Dekaden mit durchschnittlich rund einem Prozentpunkt pro Jahr über den Anstiegen der beitragspflichtigen Einkommen.
Wo die schwäbische Hausfrau ins Spiel kommt
Einerseits müssen Kassen also Bürgergeldempfänger mitfinanzieren, die Pflegekassen bekommen ihre vorgestreckten Mittel aus Coronazeiten nicht zurück, und jetzt soll beiden mittels Zwangsverschuldung auch noch der künftige finanzielle Spielraum eingeschränkt werden.
Für die Kassen bedeutet das: Wenn die Einnahmen nicht reichen, muss man an den Ausgaben sparen; so würde es die im Bundestag gern und häufig zitierte schwäbische Hausfrau machen.
GKV-Chef Oliver Blatt hat bereits ein Ausgabenmoratorium vorgeschlagen: Vergütungen, Budgets und Honorare sollen nicht stärker steigen dürfen als die Einnahmen. Das heißt dann aber, dass die Debatte auch über die Vergütungen der Leistungserbringer, auch der Praxisärzte, geführt werden muss.
In den 1990er-Jahren hatte der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) sich dieses Instruments bedient. Mit seinem Gesundheitsstrukturgesetz kamen die Budgetierungen der Ausgaben für Arzneimittel, für die ambulante und die stationäre Versorgung sowie die Anbindung der Budgets an die Einnahmeentwicklung der Krankenkassen.
Seehofer lässt schön grüßen!
Diese Debatte dürfte hochinteressant werden. Schließlich ist die Politik gerade erst in die Entbudgetierung der Versorgung eingestiegen.
Wichtiger werden könnten echte Strukturreformen. Ausgerechnet an dieser Stelle weisen die politischen Diskussionen aber in eine andere Richtung. Die neue Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) lässt zumindest aus einem Großprojekt der Ampel Luft ab.
Die Krankenhausreform, die perspektivisch Kosten einsparen sollte, soll erst später scharf geschaltet werden. Wann eine bessere Behandlungskoordination durch die Hausärzte Rendite abwerfen kann, ist offen.
Die Menschen werden älter und damit auch kränker. Und der medizinische Fortschritt macht auch alles teurer. Die Spielräume für Kürzungen sind also nicht groß. Wahrscheinlich müssen die Kassen ohnehin Leistungen einschränken, selbst wenn die finanzielle Basis breiter würde.
Änderungen an der Umsetzung
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Wenn man als Staat aber will, dass die Sozialabgaben – aktuell 42,5 Prozent – nicht ungebremst weitersteigen, dann muss man für eine Finanzierung sorgen, die günstige Versorgungsoptionen öffnet, nicht einengt.
Auch Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) und die Koalitionäre von Union und SPD wissen das. Die Rückzahlung der vorgesehenen Darlehen ist ab 2029 vorgesehen. Dann sind wieder Wahlen.
Im Grunde genommen halst die Koalition damit ihre aktuellen Probleme mit der gesetzlichen Krankenversicherung der nächsten Regierung auf. Nachhaltig ist anders!