Die Krise erreicht die EU-Gesundheitssysteme

Experten schlagen Alarm: Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise bedroht die sozialen Sicherungssysteme in Europa - mit teilweise verheerenden Folgen.

Von Petra Spielberg Veröffentlicht:

BAD HOFGASTEIN. Die weltweite Wirtschaftskrise stellt eine ernste Bedrohung für die Stabilität der europäischen Gesundheitssysteme dar. Diese Ansicht vertraten Experten und Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft, Medizin, Industrie und Wissenschaft auf dem Europäischen Gesundheitsforum (EGF) im österreichischen Bad Hofgastein.

Die Gründe hierfür sind vielfältig. Leere Staatskassen verringern die Möglichkeit und Bereitschaft zur staatlichen Unterstützung der Gesundheitssysteme. Eine sinkende Wirtschaftsleistung und steigende Arbeitslosenzahlen wiederum führen zu einem Rückgang am Beitragsaufkommen der Krankenkassen. Die schwierige wirtschaftliche Lage vieler Haushalte wiederum könnte einen Anstieg stressbedingter Erkrankungen und Depressionen bewirken, so ein weiteres Fazit des Forums. Die Experten wiesen ferner darauf hin, dass die Krise gesundheitliche Ungleichheiten zwischen den Bevölkerungsschichten sowie ungesunde Verhaltensmuster fördern könne.

Ebenso deutlich wurde, dass solidarisch finanzierte Gesundheitssysteme von den Auswirkungen voraussichtlich weniger stark betroffen sein werden als Systeme mit einer geringen sozialen Absicherung. David Struckler, Soziologe an der Universität Oxford und Autor einer Studie, die sich mit den Gesundheitsfolgen von Wirtschaftskrisen beschäftigt, machte dies am Beispiel der Selbstmordraten in Schweden und Spanien deutlich: "In Schweden, wo es relativ hohe Gesundheitsausgaben pro Kopf gibt, ist keinerlei Zusammenhang zwischen Konjunktur und Selbstmordraten feststellbar. In Spanien, dessen öffentliche Gesundheitsversorgung auf einem deutlich niedrigeren Stand ist, schwanken die Sterblichkeitsraten praktisch parallel zur Konjunkturentwicklung."

Struckler warnte eindringlich vor radikalen Einschnitten bei den Gesundheits- und Sozialbudgets und rief dazu auf, in Gesundheitsprogramme und Arbeitsmarktmaßnahmen zu investieren. "Wenn wir ein Prozent der Summe, die für die Rettung des Finanzsystems zur Verfügung steht, für gezielte Gesundheits- und Sozialmaßnahmen aufwenden, dann könnten wir verhindern, dass die Wirtschaftskrise letztlich auch noch Leben kostet", so der Soziologe.

Grundsätzlich seien in der Krise jedoch keine anderen Gesundheitsstrategien notwendig als in guten Konjunkturphasen. Arbeitsmarktmaßnahmen könnten zudem gerade im Hinblick auf psychische Erkrankungen weitaus stärkere positive Effekte haben als klassische Gesundheitsprogramme.

Armin Fidler, Chefberater der Weltbank für Gesundheitspolitik, forderte, die Krise als Chance zu sehen, um überfällige Reformen durchzusetzen. Effizienzreserven sieht Fidler im Klinik- und Arzneimittelbereich. Zugleich gelte es, sozial Schwache zu untersützen. Kritik übte Fidler am deutschen Konjunkturprogramm. Zwar seien zehn Milliarden Euro für den Gesundheitsbereich vorgesehen. Die Mittel entfielen jedoch im Wesentlichen auf die Modernisierung und den Ausbau von Krankenhäusern und trügen somit nicht zur kurzfristigen Sicherung der Gesundheitsversorgung bei.

Sorge bereitet Fidler zudem, dass die Wirtschaftskrise aufgrund von Mittelkürzungen zu einer zunehmenden Ausbreitung von Infektionskrankheiten führen könne.

Lesen Sie dazu auch: Rekorddefizit für die Sécurité Sociale

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