"Die frühe Nutzenbewertung darf uns nicht die Luft abschnüren"

Das Jahr 2010 markiert eine Wende für die forschende pharmazeutische Industrie: Erst wurde der gesetzliche Rabatt auf 16 Prozent erhöht, dann entwickelte die schwarz-gelbe Koalition das Konzept der frühen Nutzen- bewertung mit dem Ziel, auch Arzneien mit neuen Wirkstoffen unter Fest- oder Höchstbeträge zu nehmen. Eine Politik mit Risiken, wie Dr. Hagen Pfundner, Vorstand der deutschen Roche AG, sagt. Risiken für zukünftige Innovationen und für den Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland.

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Hightech-Arbeitsplatz bei Roche im oberbayerischen Penzberg. Von diesem größten Biotechnologie-Standort in Deutschland gehen erhebliche wirtschaftliche Multiplikatoreffekte aus. Bei vorgelagerten Industrien und im wissenschaftlichen Umfeld werden drei bis vier weitere hochwertige Arbeitsplätze gesichert.

Hightech-Arbeitsplatz bei Roche im oberbayerischen Penzberg. Von diesem größten Biotechnologie-Standort in Deutschland gehen erhebliche wirtschaftliche Multiplikatoreffekte aus. Bei vorgelagerten Industrien und im wissenschaftlichen Umfeld werden drei bis vier weitere hochwertige Arbeitsplätze gesichert.

© Roche (4)

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Pfundner, Roche hat dieses Jahr rund 500 Millionen Euro in seine beiden deutschen Standorte Mannheim und Penzberg investiert. Hätten Sie anders entschieden, wenn Sie gewusst hätten, dass Sie seit Mitte des Jahres bis Ende 2013 einen von sechs auf 16 Prozent erhöhten Rabatt gewähren müssen?

Pfundner: Wir sind 114 Jahre in Deutschland im Geschäft mit hochinnovativen Arzneimitteln und Diagnostika. Unsere Geschäftsplanung ist grundsätzlich langfristig ausgerichtet mit einem Horizont von fünf bis zu zehn Jahren. Das gilt vor allem für Investitionen in Sachanlagen. Insofern würde ich sagen: Nein, wir hätten nicht anders entschieden. Die Frage, die sich allerdings heute stellt, ist: Werden zukünftige Investitionen jetzt an Deutschland vorbeigehen?

Dr. Hagen Pfundner, Vorstand der Roche AG: "Jeder Arbeitsplatz bei Roche sichert drei bis vier weitere im Umfeld."

Ärzte Zeitung: Und dann für lange Zeit?

Pfundner: Das ist wie ein Tanker. Die Investitionen, die wir tätigen, sind schwer zu stoppen - es ist aber auch schwer, wieder Fahrt aufzunehmen. Mit unseren Entscheidungen für Forschungs-Investitionen, aber auch für Sachinvestitionen, entscheiden wir über die Medizin des Jahres 2020.

Ärzte Zeitung: Wie reagieren Sie kurzfristig?

Pfundner: Was uns besonders enttäuscht hat, ist nicht, dass die Politik entschieden hat, unsere Innovationen nach ihrem Nutzen zu bewerten - sondern dass sie reflexartig zu Zwangsmaßnahmen greift wie dem einheitlichen Herstellerrabatt. Der schlägt undifferenziert und einheitlich auf alle Produkte durch, auch solche, die sich im Innovationsgrad deutlich unterscheiden.

Unser Produktportfolio ist zu 93 Prozent patentgeschützt, hochinnovativ - und damit sind wir vom Zwangsrabatt disproportional betroffen.

Die Belastung beläuft sich im nächsten Jahr auf 180 Millionen Euro. Das ist eine Sondersteuer von rund 15 Prozent bei einem Umsatzvolumen von 1,3 Milliarden Euro.

Ärzte Zeitung: Glauben Sie ernsthaft, dass der Rabatt 2014 wieder auf sechs Prozent zurückgefahren wird?

Pfundner: Mein Wunsch ist, dass er auf Null gefahren wird.

Dr. Hagen Pfundner

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Ärzte Zeitung: Ein Traum!

Pfundner: Glaube ich nicht. Denn ich bin davon überzeugt, dass das, was die Politik geritten hat, eine Art Beißreflex auf das Auseinanderklaffen der Einnahmen-Ausgaben-Schere der gesetzlichen Krankenversicherung aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise ist. Da hat man sich ein Opfer ausgesucht, das man schnell auf die Schlachtbank führen kann. Was bei solchen Schnellschüssen leicht übersehen wird, ist, dass dort, wo - wie in unserem Fall - 180 Millionen Euro Verlust anfallen, dieser nur abgefedert werden kann, indem man Investitionen zurückfährt, Prioritäten neu setzt, Effizienzprogramme initiiert - oder geplanten Aufbau nicht umsetzt.

Ärzte Zeitung: Vor wenigen Tagen hat der Bundestag ein Gesetz zur schnellen Nutzenbewertung verabschiedet. Wie rüstet sich Roche, um innerhalb einer sehr kurzen Frist die Vorteilhaftigkeit seiner Arzneimittel nachzuweisen?

Pfundner: Wir bereiten uns vor, indem wir den Arbeitsbereich Nutzenbewertung aufbauen. Wir haben die Diskussion um den patientenrelevanten Nutzen ja bereits seit zwei, drei Jahren. Wir bemühen uns, mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss und dem IQWiG ein sachliches und an Inhalten orientiertes Verhältnis anzustreben.

Ärzte Zeitung: Bislang war das ja eher eine Konfrontation, woran die Kosten-Nutzen-Bewertung ja auch schließlich gescheitert ist.

Pfundner: Unser Gesundheitssystem ist im Prinzip ein Verteilungssystem. Es geht nicht um den Wettbewerb der Qualitäten. Bei einer Budgetierungslogik gibt es immer auch Verteilungskämpfe. Und dabei war die Kosten-Nutzen-Bewertung ein Opfer der Verteilungskämpfe, weil keiner seine Position aufgeben wollte. Dabei haben auch wir Fehler gemacht. Wir haben zu lange das berechtigte Interesse, den Nutzen nachweisen zu müssen, hinterfragt, anstatt den Prozess dazu proaktiv mitzugestalten. Das ist ein Versäumnis, das ich mir mit anlaste.

Ärzte Zeitung: Roche ist in der Onkologie sehr stark. Die Arzneimittelkommission der Ärzte beklagt eine besonders schwache Datenlage zum Nachweis patientenrelevanter Vorteile. Müssen Sie sich den Schuh anziehen?

Pfundner: Das sehe ich ganz anders. Es gibt kaum eine Therapie mit härteren Endpunkten als in der Onkologie: die Verlängerung der Überlebenszeit und mehr Lebensqualität. Gerade in der Onkologie wurde doch Massives geleistet.

Es sind auch eher die Arzneimittel-Preise, die den Vorsitzenden der Arzneimittelkommission ärgern - aber der zusätzliche Nutzen ist klar bestimmbar: Wenn wir zehn oder 20 Jahre zurückgehen, dann sehen wir, dass heute Patienten mit verschiedensten Krebserkrankungen sehr viel bessere Heilungschancen haben. Was noch gelungen ist: Die Patienten müssen nicht mehr lange im Krankenhaus behandelt werden, sie können heute ambulant versorgt werden. Hier können wir zweifellos den Nutzen nachweisen und lassen uns auch daran messen.

Ärzte Zeitung: Können Sie das denn in der geforderten Schnelligkeit tun?

Pfundner: Prinzipiell ist es möglich, wenn diese Bewertung einen längeren Zeitrahmen abdeckt. Da wir uns heute in der Onkologie bei den Schwersterkrankten an die Probleme heranarbeiten, ist der Nutzen - gemessen an der zusätzlichen Überlebensdauer - dort zunächst relativ klein. Das haben wir genau so bei Herceptin gesehen. Dann hat sich das Produkt innerhalb von zehn Jahren am Markt weiterentwickelt: Heute haben wir Therapieergebnisse im frühen Stadium dieser Erkrankung, die revolutionär sind. Das zeigt: Weiterentwicklung findet auch nach der Marktzulassung statt, und es dauert manchmal Jahre, bis das volle Nutzenpotenzial einer Therapie nachgewiesen werden kann. Meine Sorge bei der frühen Nutzenbewertung ist, dass einer Innovation die Luft zur Entwicklung abgeschnürt wird.

Ärzte Zeitung: Sehen Sie die Möglichkeit, dass eine negativ ausgegangene Schnellbewertung eines Tages reversibel ist?

Pfundner: Das sehe ich skeptisch. Unter den Bedingungen der Schnellbewertung würden wir heute wahrscheinlich ein Herceptin nicht verfügbar haben, weil das Nutzen-Risiko-Verhältnis am Anfang sehr klein war und sich erst im Zeitablauf zur Revolution entwickelt hat. England ist hier anschauliches Negativbeispiel. Dort wurde Herceptin zunächst abgelehnt, und erst als die Patientinnen auf die Straße gingen, hat die Behörde eingelenkt.

Ärzte Zeitung: Die für Roche typische Kombination aus Diagnostika und Therapeutika soll Ihnen einen strategischen Vorteil ermöglichen: maßgeschneiderte Arzneimittel für definierte Patientengruppen. Stichwort: personalisierte Medizin. Funktioniert das?

Pfundner: Wir stehen hier noch ganz am Anfang. Aber es funktioniert. Herceptin war der Urknall dafür. Aber wir haben auch in der Hepatitis-Therapie Beispiele auf dem Markt. Und wir haben in der späten Phase der Entwicklung 14 Projekte, von denen sechs mit einem sogenannten Companion Diagnostic kombiniert sind. Wir gehen bewusst den Weg, Biomarker und zielgerichtete Therapien und Therapie-Schemata einschließlich des Monitorings und der Verlaufskontrollen zu entwickeln.

Das versetzt uns in die Position, einer Nutzenbewertung standzuhalten. Denn je genauer die Patientenpopulation beschrieben werden kann, die von einer Therapie profitiert, desto leichter ist es, den Nutzen darzustellen.

Ärzte Zeitung: Das bedeutet natürlich auch, dass Patientengruppen immer kleiner werden - vice versa die Kosten je behandeltem Patienten steigen.

Pfundner: Nicht unbedingt. Wenn heute im Schnitt vielleicht bestenfalls 50 Prozent der behandelten Patienten auf eine Therapie ansprechen, und wenn künftig die Responderrate auf 60 oder 70 Prozent gesteigert werden kann, dann gewinnt das ganze System an Effizienz. Das rechnet sich, solange der Nutzenzuwachs größer ist als die Abnahme der Patientenpopulation.

Ärzte Zeitung: Wird die Entwicklung künftig länger dauern?

Pfundner: Der Zeitpunkt wichtiger Entscheidungen verschiebt sich. Heute ist das Risiko des Scheiterns in der späten klinischen Entwicklung zu hoch. Da fallen auch die hohen Kosten an. Wir müssen früher unter den Projekten selektieren. Und dann gezielt geeignete Patientenpopulationen identifizieren. Damit könnten auch Kosten gesenkt werden.

Ärzte Zeitung: Vor dem Hintergrund weiterer Innovationen: Welche Größenordnung an Wachstum erwarten Sie künftig im deutschen Markt?

Pfundner: Kurzfristig rechne ich mit Stagnation. Das ist eine Folge der Sparmaßnahmen. Ich rechne auch mit einem entschleunigten Wachstum.

Wir haben ein Geschäftsmodell, das auf einer Innovationsphase mit Patentschutz, gefolgt von einer Imitationsphase mit Generika, beruht. In großen Innovationsbereichen laufen in den nächsten Jahren die Patente aus und werden durch Imitationen ersetzt. Das dämpft das Wachstum. Ich bin auch überzeugt, dass der demografische Wandel als Kostenfaktor überschätzt wird.

Ärzte Zeitung: Dann müsste man unter industriepolitischen Gesichtspunkten froh darüber sein, dass es im Ausland sehr viel stärker wachsende Märkte gibt.

Pfundner: Das sind wir auch. Und Deutschland hat sehr viel davon. Konkret am Beispiel von Roche: Über 50 Prozent unserer deutschen Produktionsleistung von vier bis fünf Milliarden Euro sind Exporte - Biotech Made in Germany - für unsere Tochtergesellschaften im Ausland. Von unseren 13 000 Mitarbeitern sind rund 2000 in Marketing und Vertrieb beschäftigt. Über 11 000 hingegen in Forschung, Entwicklung und Produktion. Und hier wird das Exportvolumen generiert.

Ärzte Zeitung: Was hat der deutsche Staat davon?

Pfundner: Das wird häufig unterschätzt. Wir haben die höchste Bruttowertschöpfung aller Industrien. Da können wir uns mit der Software-Industrie vergleichen. Allein 2009 verblieben 1,5 Milliarden Euro an direkten Effekten in Deutschland - ohne Löhne und Gehälter. Davon sind gut 400 Millionen Euro Investitionen in neue Sachanlagen.Wir haben ausgerechnet, dass jeder Arbeitsplatz, den wir bei Roche haben, drei bis vier Arbeitsplätze im Umfeld sichert.

Das Interview führte Helmut Laschet

Rückgrat für weltweite Spitzen-Technologie



Roche - Zahlen und Fakten

Branche:
Sitz:

Geschäftszahlen 2009:

Division Pharma:

Mitarbeiter:

Wichtigste Indikationen:

Blockbuster

Division Diagnostics:

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